Ob etwas fehlt, wenn Nähe fehlt, oder ob vielmehr ihr Fehlen eine Befreiung ist, hängt von den jeweiligen konkreten Umständen ab. Das Bedeutungsspektrum dieses Begriffs ‚Nähe’, reicht von Geborgenheit und Wärme bis zu Lästigkeit, ja Unerträglichkeit. Der Nähe-Mangel, den der Corona-Komplex uns eingetragen hat, manifestiert sich vor allem in einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung. Ein Meinungs- und Deutungskampf entbrannte, der bewährte Loyalitäten schlagartig beendete, Freundschaften zerbrach, Familien zerrüttete, Arbeitsverhältnisse vergiftete. Während die Corona-Sorge abklingt, die Pandemie aus den Schlagzeilen verschwindet und die Masken fallen, bleibt die Spaltung vertieft bestehen. Und die Frontlinie, die zwischen ‚Geimpften’ und ‚Impfgegnern’, (ich habe das in Anführungsstriche gesetzt) zwischen ‚wissenschaftlich’ und ‚verschwörungstheoretisch’ verlief, trennt jetzt Bellizisten und Pazifisten und zwar nach ebenso ungleichen Mehrheitsverhältnissen.
Der Katholische Kirchentag 2022 steht unter einem dunklen Stern, aber gerade das gibt ihm eine ungewöhnliche Bedeutung. Es ist allerdings gut möglich, dass wir, die wir uns hier in Stuttgart versammelt haben, diese Bedeutung übersehen und uns damit begnügen, ihn möglichst unauffällig und ohne störende Vorkommnisse in größtmöglicher Einhelligkeit über die Runde zu bringen. Für diese Einhelligkeit hat sich in unserem Sprachgebrauch das Wort ‚Geschhlossenheit’ durchgesetzt. ‚Geschlossenheit’ gilt in diesen unsicheren Zeiten als ein so hoher Wert , dass wir das Gespür für die Gefahren, die darin lauern, zu verlieren drohen und sie sogar mit Nähe verwechseln. Geschlossenheit bedeutet aber eben nicht nur Zusammenhalt, sondern auch Eingesperrt-Sein. Für die Gefahren der Einsperrung habe ich, die ich seit Kindertagen und Bunkernächten an Klaustrophobie leide, ein besonders geschärftes Sensorium. Bei mir schrillten die Alarmglocken, als ich am 16. April in den Nachrichten nahezu aller für wichtig befundenen Medien von der Entscheidung des Papstes erfuhr, bei der traditionellen Kreuzwegprozession am Karfreitag in Rom, eine Russin und eine Ukrainerin das Kreuz gemeinsam tragen zu lassen. Ich atmete auf, endlich eine symbolische Geste der Versöhnung, endlich ein Zeichen, das in eine andere Richtung wies, als in die Aufrüstung mit immer mehr Zerstörungswucht. Aber dann kam die Ernüchterung. Die Reaktion reichte von der Vermutung, der Papst sei aus Altersgründen seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen, bis hin zu dem Vorwurf, er spiele Putin in die Hände, wobei das Wort ‚Putin’ inzwischen als Bezeichnung für ganz Russland Verwendung findet. Aus der Ukraine kam der Verweis, für eine Geste der Versöhnung sei es zu früh, will sagen, der Papst hatte offenbar den Versöhnungsfahrplan nicht eingehalten. Aber Versöhnung duldet keinen Aufschub. Die Botschaft, in deren Namen wir hier zusammengekommen sind, ist in dieser Hinsicht ganz unmissverständlich: Lass alles stehen und liegen, wenn dir einfällt, dass du mit deinem Nachbarn zerstritten bist, und gehe zuerst hin und versöhne dich. Und dann heißt es dort auch: „Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Wege bist...“ (Mt 5.23-25) Die Vorstellung, man könne erst den Sieg erfechten und sich dann der Versöhnung widmen und Frieden organisieren, ist abwegig. Der Friede Gottes, der höher ist als diese ‚Vernunft’, lässt sich nicht um die Versöhnung betrügen, und die Frage, wer den ersten Schritt tun muss, stellt sich nicht, er muss nur getan werden, zum Beispiel von uns, hier auf dem Kirchentag, zum Beispiel dadurch, dass wir in unseren Fürbitten keine Leid-Tragenden erster, zweiter, dritter und vierter Klasse unterscheiden. Das können wir von einem kleinen Jungen lernen, der bei der Erstkommunion in seiner Gemeinde, nachdem alle anderen Kinder ihre Fürbitte für die in der Ukraine von Bomben, Angst und Verzweiflung bedrängten Menschen ausgesprochen hatten, seiner eigenen Bitte die vier Worte „und auch den Russen“ hinzufügte. Meine Anteilnahme gilt den ukrainischen Frauen, die, geflohen mit ihren Kindern, sich von ihren Männern an der polnischen Grenze verabschieden mussten, ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen werden, und den Müttern, Frauen und Kindern im fernen Sibirien, denen ihre Männer abhanden kamen und die nicht einmal, wenn sie vielleicht doch Nachricht von ihnen haben, wissen, ob sie noch leben. Sie gilt den Menschen, die in Charkiw oder anderswo mit der Angst ins Bett gehen, dass sie unter den Trümmern ihres nächtens zerbombten Hauses begraben werden könnten, und den nichtsahnenden jungen russischen Soldaten, die in den Krieg geschickt wurden, ohne zu wissen, wo sie sind, und was sie da tun und von denen etliche in ihren Panzern verbrannt sind. Sie gilt den Kindern, die mir besonders nahe gehen, denn ich fühle mich ihnen verbunden in der Erfahrung dessen, was Krieg ihnen antut, und den Müttern, die nicht wissen wie sie sie schützen und trösten sollen.
Die Botschaft, in deren Namen wir uns versammelt haben, mutet uns noch mehr zu:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist (3.Mose 19.18):’Du sollst Deinen Nächsten lieben’ und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: ‚Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,... (Mt 5.44; siehe auch: Lk 6.27-28).
Sie mutet mir zu, demjenigen, der mir auf die rechte Wange schlägt, auch die linke darzubieten und dem, der mir den Rock stiehlt, auch meinen Mantel zu überlassen.
Ich weiß, diesen Zumutungen bin ich nicht gewachsen. Sie sind ein Vorschein auf das ganz Andere, auf den Frieden, der das, was wir über ihn zu denken wagen, weit übersteigt. Aber die Aufgabe bleibt uns doch, alles uns Mögliche dafür zu tun, dass die Sehnsucht nach dem „Frieden, der höher ist als alle menschliche Vernunft“, in uns nicht erlischt.
Papst Franziskus hat noch einen ersten Schritt, der für den langen Weg der Annäherung und Versöhnung unerlässlich ist, getan. Er hat gewagt, die Unschuld der westlichen Allianz an dem Kriegsgeschehen in Frage zu stellen, wohl aus der bewährten Einsicht heraus, dass im Falle eines Konflikts immer Verblendung herrscht, wenn eine Seite sich unschuldig erklärt und die ganze Last des Schuldigseins ohne Abstriche und bis zur Verteufelung der anderen Seite aufbürdet. Auch dafür hat Papst Franziskus einen Sturm der Entrüstung geerntet. Aber ohne diese äußerst schmerzliche Mühe, die eigenen Anteile am Zustandekommen der ausweglosen Lage redlich und wahrhaftig, nach bestem Wissen und Gewissen und unter Einbeziehung Andersmeinender zu ergründen, dürfen wir nicht behaupten, wir seien verhandlungsbereit.
Tagtäglich werden wir im medialen Rauschen auf ‚unsere’ Solidarität mit der Ukraine eingeschworen. Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen, in dieses solidarische ‚Wir’ eingeschlossen zu werden. Ich bin nicht ukrainophil und werde keine ukrainischen Fahnen schwenken und mein Gesicht nicht blau und gelb bemalen, sowenig wie ich russische oder deutsche oder NATO-Fahnen schwenken werde. Ich fühle mich ukrainischen Menschen verbunden, weil sie mich angehen, weil ich von Ihrem Elend ‚berührt’ bin, „je suis touché“, sagt Emmanuel Levinas über diese Verbundenheit. Aber wie ist das möglich, da ich sie doch gar nicht kenne? Dass Angst kein guter Ratgeber sei, ist sprichwörtlich. Ich sehe das anders: die aus meiner Kindheit durch’s Leben hindurchgetragene Angst vor dem Grauen des Krieges und vor technisch unermesslich gesteigerter Gewalt teile ich mit den Leidtragenden auf beiden Seiten und sie macht es mir un-möglich zu glauben, diese waffenstarrende Solidarität könnte einem friedlichen Zusammenleben den Weg bereiten. Möge der Kirchentag diesem gesellschaftlich inzwischen verpönten Un-Glauben an einen durch technische Hochrüstung herstellbaren Frieden eine Stimme geben, nicht eine, die siegen und Recht haben will, aber eine, die als Hoffnung nicht aufgegeben werden darf. „Ent-rüsten wir uns!“
Ich schließe mit einem Satz von Elias Canetti:
„Manches sollte man nicht sein, aber das Einzige, was man nie sein darf, ist ein Sieger.“ (Canetti, Elias: Die Provinz des Menschen. 5.Aufl. Frankfurt 1981, S. 153.)