Aus dem Englischen übersetzt von Parvis Hejazi
In einem früheren Aufsatz versuchte ich zu erklären, warum eine Politik der totalen Quarantäne, des sogenannten „Lockdowns“, weite Akzeptanz erreichen konnte, wenngleich sie sich zutiefst zerstörerisch auf den Lebensstandard, die soziale Moral und zuvorderst die Volksgesundheit auswirkt. Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass viele Menschen einen Begriff wie „Lockdown“ dulden konnten - einen Begriff, der Gefangenschaft und totale Kontrolle impliziert, - ihn gar begrüßen und seine Brecher und Kritiker verurteilen? Mein Argument war, dass Gesellschaften wie die kanadische bereits für eine lange Zeit „geübt“ hatten – wir hatten uns bereits auf jene Konzepte vorbereitet, auf deren Grundlage unseren Strategien zur Eindämmung der Pandemie gesunder Menschenverstand attestiert wurde. Diese Konzepte umfassen Risiko-, Sicherheits- und proaktives Management, die Wissenschaft als ein mächtiges, mit einer machtvollen Stimme sprechendes Orakel und, mehr als alles andere, Leben als Quantum, das mit allen Mitteln verteidigt werden muss, was auch immer die Kosten seien. Unsere graduelle Verinnerlichung dieser Konzepte hat die Politik, der gefolgt wird, so rational erscheinen lassen, so unvermeidbar, und so vollkommen alternativlos, dass es möglich wurde, ihre Gegner zu verleumden und sie in weiten Teilen von jenen Medien auszuschließen, durch welche ihre Stimme an politischem Einfluss möglicherweise zugenommen hätte. Was während der Pandemie deutlich spürbar wurde, mag bereits latent angelegt gewesen sein, doch es so, in seiner enthüllten Gestalt einer neuen sozialen Ordnung zu erleben, ist dennoch eine verstörende und durchaus beängstigende Erfahrung. Es scheint daher hilfreich zu sein, eingehender zu betrachten, was die Pandemie offenbart und ans Licht gebracht hat.
Wissenschaft
Seit Beginn der Pandemie regte sich kontinuierlich Kritik zahlreicher Wissenschaftler an der Politik der totalen Quarantäne – so nenne ich den Versuch, SARS COV-2 im Zaum zu halten, bis die gesamte Bevölkerung gegen das Virus geimpft worden ist. Die erste mir bekannt gewordene kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Politik der totalen Quarantäne war ein Text des Epidemiologen John Ioannidis, Professor der Medizin an der Stanford University und Experte für bio-medizinische Statistik. Er warnte vor dem „Fiasko“, welches sich aus der Verhängung drastischer Maßnahmen ergeben würde, ohne dass diesen elementare Daten zugrunde lägen, wie beispielsweise die Infektionsmortalitätsrate der Krankheit und die Kosten der Demobilisierung ganzer Bevölkerungen. Einige der potentiellen Kosten wurden am 16. Mai in der britischen Zeitschrift The Spectator von Jayanta Battacharya, einem Kollegen Ioannidis‘ und dem Ökonomen Mikko Packalen von der Waterloo University Ontario aufgeführt Veröffentlicht unter dem Titel „Leben gegen Leben“ argumentierten sie, dass die Zahl der durch den Lockdown herbeigeführten oder in Kauf genommenen Todesfälle bei weitem die Zahl der verhinderten übertreffe. So sagten sie beispielsweise einen massiven Anstieg der Kindersterblichkeit aufgrund des Zusammenbruchs familiärer Existenzen voraus, der sich in seiner Größe überhaupt nicht mit dem Sterben im Zuge der Pandemie vergleichen ließe. Darüber hinaus machten sie deutlich, dass Lockdowns jene schützten, die in der Gesellschaft über die besten Möglichkeiten verfügen, sich selbst zu schützen – jene in guter beruflicher und finanzieller Verfassung, für die das „Home-Office“ lediglich eine temporäre Unbequemlichkeit bedeutet. Hingegen gefährden Lockdowns die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die es sich am wenigsten leisten können, sich vor dem Virus zu schützen – die Jungen, die Armen und die sozial Schwachen.
Im Sommer erkannte eine Gruppe herausragender kanadischer Mediziner die gleichen Gefahren wie Battacharya und Packalen. In ihrem offenen Brief an die politisch Verantwortlichen Kanadas plädierten sie für eine „ausbalancierte Antwort“ auf die Pandemie und argumentierten, dass der „gegenwärtige Ansatz“ eine ernste Bedrohung für die „Gesundheit der Bevölkerung“ und die gesellschaftliche Fairness wäre. Zu den Mitgliedern der Gruppe zählten unter anderem zwei ehemalige leitende Gesundheitsbeauftragte Kanadas, zwei ehemalige Gesundheitsminister auf provinzialer Ebene, drei ehemalige stellvertretende Gesundheitsminister auf nationaler Ebene, drei gegenwärtige und ehemalige Dekane der medizinischen Fakultäten an Universitäten in Kanada und zahlreiche weitere akademische Lichtgestalten – ein wahres „Who’s Who“ der Volksgesundheit Kanadas. Nichtsdestotrotz erregte ihr Statement kaum Aufmerksamkeit in den Mainstream-Medien – ein erstaunlicher Fakt, auf welchen ich im Folgenden eingehen werde.
Dieses Muster setzte sich fort – zuletzt mit der Great Barrington Declaration. Diese war eine am 6. Oktober veröffentlichte Stellungnahme von Martin Kulldorf, Professor für Medizin an Harvard, Sunetra Gupta, Professorin für theoretische Epidemiologie in Oxford und Jay Battacharya aus Stanford, von dem bereits die Rede war. Das Statement verurteilte „den vernichtenden Effekt“ der gegenwärtigen Politik „auf die allgemeine Gesundheit in der Bevölkerung“ und befürwortete eine Politik des „fokussierten Schutzes“ – solche Personengruppen schützend, für die COVID ein besonderes Risiko darstellt, während der Rest der Bevölkerung weiterhin am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilnehmen könne. Auf diese Weise könne sich schrittweise Herdenimmunität in der gesunden Bevölkerung aufbauen, während jene in einer besonders vulnerablen Position nicht schutzlos der Krankheit ausgeliefert wären.
Eine Weile nachdem die Great Barrington Declaration in Umlauf gekommen war, bereitete ein Artikel des britischen Immunologen und respiratorischen Pharmakologen Mike Yeadon Anlass zur Hoffnung, dass die Immunität in der Bevölkerung bereits weiter ausgeprägt sei als gemeinhin angenommen. Yeadon ist ein Veteran der Pharmaindustrie, wo er die Forschung an neuen Behandlungsmöglichkeiten für Atemwegsinfektionen leitete und schließlich sein eigenes Biotech-Unternehmen gründete. Er argumentierte, dass, auch wenn SARS COV-2 ein Virus neuen Typus sei, es ein Coronavirus sei und als solches substanzielle Ähnlichkeiten zu anderen Coronaviren aufweise. Nach seiner Schätzung wiesen 30% der Bevölkerung „reaktive T-Zellen“ gegen SARS COV-2 auf als die Pandemie begann. Dies ist eine alarmierende Information, da sie zeigt, dass die Hypothese auf deren Grundlage alle Regierungen ihre Politik entwickelten und nach welcher alle Menschen gleichermaßen vulnerabel dem Virus gegenüber sind, klar verfehlt ist. Zur Unterstützung seiner Aussagen legte Yeadon dar, dass „zahlreiche hochkarätige Forschungsgruppen in der ganzen Welt“ gezeigt hätten, dass Kreuzimmunitäten zwischen verschiedenen Coronaviren real und effektiv seien.
Das zweite Anliegen seines Artikels war der Versuch, eine Zahl der bislang Infizierten zu etablieren. Diese Zahl leitete er her, indem er die sogenannte Infektionsfatalitätsrate (IFR) rückwärts rechnete, also den prozentualen Anteil derjenigen an den Erkrankten, die an der Krankheit verstarben. (Wenn man den Prozentsatz der Fatalitäten kennt, kann man auf die gesamte Anzahl der Infizierten rückschließen.) Hier verließ er sich auf die Arbeit von John Ioannidis – wir haben ihn bereits erwähnt – der kürzlich im Bulletin der WHO eine von Kollegen begutachtete Meta-Studie veröffentlichte – also eine Studie, die andere Studien untersucht – in welcher er die Infektionsfatalitätsrate von COVID auf den Mittelwert von 0,23% schätzt. (Diese Zahl fällt auf 0,05%, wenn Fatalitäten bei Menschen über 70 Jahren ausgeschlossen werden.) Indem er Ioannidis‘ Schätzungen auf die britische Bevölkerung anwendete, berechnete Yeadon, dass bis zu 30% der Briten, bereits infiziert sein müssten. Yeadon kombinierte diese beiden Zahlen miteinander – jene mit präexistierender Immunität und jene mit einer im Laufe der Pandemie erworbenen Immunität – und kam zu dem Fazit, dass Herdenimmunität wahrscheinlich in Sicht sei.
Diese von Yeadon und den Epidemiologen der Great Barrington Declaration vertretenen Positionen fanden ein Echo bei zahlreichen weiteren Medizinern. Am 20. September veröffentlichte eine Gruppe von nahezu 400 belgischen Ärzten, unterstützt von mehr als einem Tausend weiterer im Gesundheitssystem Beschäftigter einen offenen Brief, der zu einem Ende der „Notstandsmaßnahmen“ und zu einer offenen Diskussion aufrief. Zehn Tage später übermittelten mehr als 20 Ärzte aus Ontario einen ähnlichen Brief an den Premierminister der Provinz, Doug Ford. Ich möchte hier nicht die Frage stellen, ob all diese Wissenschaftler mit ihren Forderungen „Recht“ hatten. Da sich dies nur mit der Zeit zeigen kann, und selbst wenn, höchstwahrscheinlich nicht definitiv, denke ich noch nicht einmal, das wäre die richtige Fragestellung. Eine bessere Art zu fragen wäre: sind die Aussagen dieser wissenschaftlichen Publikationen plausibel und solide begründet? Sind sie eine Diskussion wert? Das Wesen der Wissenschaft ist es, nach einem Geduld fordernden und schmerzlichen Prozess am Ende bei einer richtigen Einsicht anzulangen; einem Prozess des gewollten Irrens und des Vergleichens der Annahmen, in der Hoffnung zu einer Schärfung, einer klareren Einschätzung zu kommen.
Doch was wir während der Pandemie sehen, ist etwas grundlegend anderes: das befremdliche Schauspiel der Regierungen und Medien, die ihre Loyalität gegenüber der Wissenschaft in alle Welt hinausposaunen, während sie gleichzeitig jegliche wissenschaftliche Meinung, die nicht der gewünschten Politik entspricht, marginalisieren und vom gesellschaftlichen Diskurs ausschließen.
Dies wird besonders deutlich am Beispiel der Verhinderung jeglicher Diskussion der Herdenimmunität – eines natürlichen Faktums, das aus welchem Grund auch immer als herzlose „Strategie“ jener verunglimpft wird, denen es nichts ausmache, viele ihrer Mitbürger sterben zu lassen. (Für den Fall, dass dies übertrieben erscheint, werde ich Beweise dessen in meiner Erörterung der Rolle der Medien vorlegen.) Dies begann im März, als der britischen Regierung zunächst nachgesagt wurde, sie würde die Herdenimmunität als politisches Ziel verfolgen und sie dafür allseits verurteilt und in den gleichen stringenten Lockdown aller anderen vergleichbaren Länder mit der Ausnahme Schwedens gedrängt wurde. (Teil dieses Rückzugs ist, dass die britische Regierung leugnete, dass es je eine solche Politik der Herdenimmunität gegeben habe. Daher bleibt es unklar und strittig, was der Plan der Regierung Johnson gewesen sein mag.) Die gleichen Argumente regten sich jüngst mit Bezug auf die Great Barrington Declaration. Da gab es beispielsweise das John Snow Memorandum, in welchem eine Gruppe von Ärzten jegliche „Management-Strategie“ verurteilte, „welche auf Immunität durch natürliche Infektionen vetraut“. Wenngleich das Memorandum klar als Antwort auf die Great Barrington Declaration konzipiert war, vermied es auf arrogante Weise, sie überhaupt zu erwähnen, als würde ihre bloße Nennung derselben eine unverdiente Macht verleihen.
Drei Punkte der Great Barrington Declaration treten aus meiner Sicht besonders hervor. Zunächst wiederholen die an der Deklaration beteiligten Wissenschaftler immer wieder in beinahe klagendem Tonfall, dass ihre Empfehlungen nichts als die bisherige „gesundheitspolitische Standardpraxis“ wiederspiegeln. Die Neuerung sie nicht die Idee, dass die Menschheit sich mit dem Virus arrangieren muss; es ist vielmehr die Annahme, dass jener Prozess, den Epidemiologen „endemisches Gleichgewicht“ nennen, irgendwie verhindert, verzögert oder gar ganz vermieden werden könne. Diese Hoffnung wurde von der Kriegsrhetorik befeuert, welche die allgemeine Mobilisierung gegen COVID-19 von Anfang an unterstützt hatte; eine Rhetorik, die selbst von der Unkenntnis der elementaren Virologie in der Öffentlichkeit abhing. (Damit meine ich, grob gesprochen, die schiere Anzahl an Viren, denen wir ausgesetzt sind, die Rolle, die Viren in unserer Evolution spielen, die Rolle, die sie weiterhin in uns spielen und die Stärke unserer Widerstandsfähigkeit gegen virale Infektionen.) „Viren sind so uralt, überlebensfähig und resistent,“ sagt Luis P. Villareal, Gründer und Direktor des Zentrums für Virologie am Irvine Campus der University of California, „dass ich ihre Rolle im Leben als „Ex Virus Omnia“ (Alles kommt vom Virus) zusammenfassen kann. Die Ansehung der Tatsache, dass das, was wir gegenwärtig mit einem neuen Virus erleben, natürlich und im historischen Maßstab normal ist, mag die Luft aus den Segeln einiger derer nehmen, die häufig und selbst-dramatisierend verlautbaren, die gegenwärtige Situation sei „beispiellos“, „die größte Krise der Gesundheitsversorgung in unserer Geschichte“ (Justin Trudeau, Premierminister Kanadas) etc.
Zweitens ist Herdenimmunität keine Strategie, sondern eine Bedingung. Ob sie mittels einer Impfung oder einer natürlichen Exposition erreicht wird: sie ist die Art und Weise, in der wir mit Viren zurechtkommen. Die Idee, dass dieser Prozess durch die von den Ärzten des John Snow Memorandums befürwortete „Management-Strategie“ grundlegend umgestaltet werden könne, erscheint den Verfassern der Great Barrington Declaration abstrus. Es ist zumindest zweifelhaft. Zwar mag es sein, dass durch Isolation „die Fallzahlkurve abflacht und dass Masken die Viruslast verringern und so manchmal eine infektiöse Viruslast in ein vorteilhaftes Inokulum verwandeln“. Dennoch muss man die Frage stellen, was durch diese Eingriffe und Verspätungen gewonnen und was eingebüßt wird. Können wir tatsächlich die Natur umgehen und die Kontrolle über das Virus behalten, jenen hippokratischen Grundsatz verletzend, nach dem, wenn der Weg unklar ist, man zumindest keinen Schaden anrichten soll?
Dies führt uns zum dritten und entscheidenden Punkt: die Definition des Begriffs des öffentlichen Gesundheitswesens. Kann diese Definition auf die Bekämpfung einer einzigen Krankheit beschränkt werden, ungeachtet der daraus resultierenden Herausforderungen, oder muss der Begriff des allgemeinen Gesundheitswesens so verstanden werden, dass alle Aspekte der Gesundheit Beachtung finden?
Wenn wir letzterer Definition folgen, dann kann nach meiner Auffassung der Standpunkt vertreten werden, dass die Politik der totalen Mobilisierung gegen COVID eine Katastrophe war und ist. Betrachten wir lediglich einen vorläufigen Entwurf der Konsequenzen dieser Politik.
Auf der ganzen Welt, besonders unter finanziell benachteiligten Bevölkerungsgruppen, lässt sich eine weitverbreitete und potentiell vernichtende Zerstörung von Existenzen beobachten. Unternehmen, die über Jahre hinweg aufgebaut wurden, werden zu Grunde gerichtet. Suizide, Depressionen, Süchte und häusliche Gewalt sind allesamt angestiegen. Die Staatsschulden sind in einem die Wirtschaft potentiell lähmenden Maße gewachsen. Die darstellenden Künste sind niedergeschmettert worden. Jene wertvollen „dritten Orte“, welche die Konvivialität erhalten, haben ihre Türen geschlossen. Angst und Panik wurden unter den Menschen gesät. Obdachlosigkeit ist in einem alle Proportionen sprengenden Ausmaß gewachsen, sodass einige Parks im Zentrums Torontos bisweilen an die Vagabundenlager der 1930er Jahre erinnern. Andere Krankheiten haben an Verbreitung zugenommen, aufgrund der Präokkupation des Gesundheitswesens mit COVID. Viele Interaktionen, die ehemals von Angesicht zu Angesicht stattfanden, wurden digitalisiert; in einigen Fällen ist eine permanente Veränderung in diese Richtung zu befürchten – man denke an einige „führende Universitäten“ wie Harvard oder U. C. Berkeley, die ihren gesamten akademischen Unterricht auf Online-Lehre umgestellt haben, in der Hoffnung, ihre Expertise so weiterhin zugänglich machen zu können. Die Liste könnte fortgesetzt werden. Ist der Schutz gesunder Menschen vor einer Krankheit, die sie zum größten Teil überstehen würden, diesen Preis wert? Diese Frage wird kaum gestellt. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele COVID-Erkrankungen vermieden wurden und wahrscheinlich werden wir es nie wissen, da es wohl unmöglich ist, eine Vergleichsstudie anzustellen, in der eine im Lockdown eingesperrte Bevölkerung mit einer solchen verglichen wird, in welcher das Virus frei zirkuliert. Ohne ein solches Experiment wird sich die Diskussion überwiegend auf die elementare Unterscheidung zwischen Zusammenhang und Ursache gründen – dass ein Lockdown veranlasst und die Ausbreitung der Krankheit vermindert wurde, wird nicht beweisen können, dass der Lockdown die Ursache der Verminderung war.
Dies ist ein eklatantes Problem. Das Pandemiegeschehen in verschiedenen Ländern wird fast ausschließlich der Politik der jeweiligen Regierung zugeschrieben: Jacinda Ardern habe Neuseeland gerettet, Donald Trump die Vereinigten Staaten versenkt, die Wissenschaftlerin Angela Merkel habe Deutschland deutlich sicherer durch die Krise geführt, während der stümperhafte Boris Johnson in Großbritannien tollpatschig auf die Pandemie reagiert habe – Neuseeland besteht aus zwei entlegenen Inseln, die Vereinigten Staaten leiden unter Übergewicht epidemischen Ausmaßes; Völker variieren in ihren Gewohnheiten, Anfälligkeiten und sogar in genetischen Veranlagungen. Jeder, der versucht zu verstehen, warum er sich die Erkältung eingefangen hat, die ihn gerade erwischt hat, während er - oder sie - bei anderer Gelegenheit verschont blieb, und jemand anders dran war, wird es mit einem Element eines Mysteriums oder mindestens einer Unklarheit zu tun bekommen. Wir wissen noch nicht einmal dies, und doch erscheint es jedem offenkundig, dass eine klare Verbindung zwischen der Politik und dem Pandemiegeschehen eines jeweiligen Landes hergestellt werden kann.
Doch die Frage, die sich hauptsächlich stellt, ist, warum keine Diskussion über die Implikationen der Politik für die allgemeine Volksgesundheit stattfindet. Ich werde versuchen, diese Frage so zu beantworten, wie sie verschiedene Institutionen betrifft, zuvorderst die Medien. Zunächst werde ich allerdings meine Erörterung der Wissenschaft fortsetzen. Dieser Terminus, Wissenschaft, ist sowohl Mythos als auch Beschreibung. Worte besitzen Denotationen – Objekte, real oder vorgestellt, auf die sie hin ausgerichtet sind – und Konnotationen – der Pool von Assoziationen und Gefühlen, die sie generieren. Im täglichen Sprachgebrauch besteht das Wort „Wissenschaft“ nur aus Konnotationen – ein wesentliches Attribut jener Worthülsen, die Uwe Pörksen „Plastikwörter“ und Ivan Illich „Amöbenwörter“ nennt. Der Begriff „Wissenschaft“ richtet sich auf kein allgemein anerkanntes Objekt aus – es gibt die so genannten „harten“ Wissenschaften und durch sie gibt im Umkehrschluss die „weichen“, beobachtende Wissenschaften und mathematische, historische und experimentelle Wissenschaften. Dieser Begriff der „Wissenschaft“ zeichnet sich durch keine allgemeingültige Methode aus. Häufig hört man von der „wissenschaftlichen Methode“. Allerdings zeigt sich selbst beim oberflächlichsten Blick auf die Philosophie der Wissenschaft, dass es zahlreiche widersprüchliche Überlieferungen dessen gibt, was hierunter zu verstehen ist.
Daher funktioniert das Wort „Wissenschaft“, solange sein Begriff nicht spezifiziert wird, als Collage von Bedeutungen, deren rhetorischer Zweck sehr häufig darin besteht, nichts als ein schillerndes Feld positiver Konnotationen zu schaffen. Dies ist es, was der französische Theoretiker Roland Barthes als „Mythos“ bezeichnet.
Mythen „naturalisieren“ nach Barthes jene Phänomene, die sie sammeln und zusammenfassen. Im Falle der Wissenschaft, wird ein diverses, heterogenes und bisweilen in sich widersprüchliches Phänomen eingeebnet und zu einem augenfälligen, kompakten und konsistenten Objekt komprimiert, welches daraufhin zum sozialen Protagonisten und grammatikalischen Subjekt umgewandelt wird: die Wissenschaft sagt, die Wissenschaft zeigt, die Wissenschaft fordert etc. Wahrhafte Geschichte, mit all ihren Ecken und Kanten wurde ersetzt durch ein scheinbar unproblematisches natürliches Objekt – verständlich, offensichtlich und handlich.
Das Ergebnis ist die Verwischung und Absorbierung der tatsächlichen Objekte. Wirkliche Wissenschaften sind begrenzte, kontingente, bedingende und bedingte Wissenskörper. Diese Grenzen sind mannigfaltig. Einige sind praktischer Natur: Beweise können widersprüchlich, ungenügend oder unzugänglich sein; sie können unmöglich zu erlangen sein, ohne die Subjekte der Forschung einem inakzeptablen Maß an Schaden auszusetzen. Einige Grenzen sind prinzipiell: je größer das Wissen, desto größer die Unwissenheit, reduktive Methoden werden folglich nicht in der Lage sein, die Realität eines Phänomens, das sie analytisch auseinandernehmen, in seiner Gesamtheit zu enthüllen; sämtliche wissenschaftliche Prozeduren sind auf philosophische Annahmen gegründet, welche von sich aus nicht in Frage gestellt werden können und so weiter. Im letzten Jahrhundert haben Philosophen, Historiker und Soziologen Das Phänomen, für das der Philosoph Bruno Latours den Begriff „science in action“ (Wissenschaft in Aktion) geprägt hat, ausgiebig studiert. Sie versuchten, wie die Historiker Steven Shapin und Simon Schaffer schreiben, „die Aura der Selbstevidenz, die den experimentellen Weg, Wissen zu produzieren, umgibt, zu zerstören.“ Durch diese Arbeit wurde ein detailliertes Bild dessen geschaffen, was an der Produktion, Stabilisierung und schließlich, wie Latour sagt, „Veröffentlichung“ wissenschaftlicher Tatsachen mitwirkt. Ich versuchte, einen Eindruck von der Weite und Breite dieses neuen Bildes der Wissenschaften in einer 24-stündigen ‚Ideas’-Serie unter dem Titel „Wie man über die Wissenschaft nachdenken sollte“, die in den Jahren 2007 und 2008 übertragen wurde, zu vermitteln. Die Tatsache, dass dieses Bild der Wissenschaften dasjenige eines bedingten und situativen Objektes ist, unterminiert in keiner Weise ihre wertvolle Errungenschaft des Aufbaus von Wissens-Komplexen, die auf öffentlichen und bestreitbaren Beweisen beruhen.
Ein realistischer Einblick in die tatsächliche Arbeitsweise der verschiedenen Wissenschaften bildet eine wesentliche Grundlage der politischen Auseinandersetzung mit ihnen. Der Mythos der Wissenschaft hingegen wirkt sich zutiefst zersetzend auf die Politik aus, da er beansprucht, ein Corpus mustergültigen und allumspannenden Wissens zu sein, der als solcher jegliche Politik überflüssig werden lässt. Ich halte dies nicht für eine Übertreibung. Im Laufe des vergangenen Jahres habe ich immer wieder jenen politischen Verlautbarungen zugehört, welche die „Wissenschaft“ als einheitliche, imperative und unfehlbare Stimme präsentieren und dabei einen unbestreitbaren politischen Handlungsweg suggerieren. Es wird impliziert, dass das Wissen die Urteilskraft ersetzen könne. Aber es ist dazu nicht in der Lage – denn Wissen ist, wie ich gezeigt habe, begrenzt; sowohl in der Praxis als auch im Prinzip. Die moralische Urteilskraft ist unverzichtbar; und sie ist die angemessene Domäne der Politik. Die institutionelle Verhängung eines Lockdowns, durch welchen ein Teil der Gesellschaft geschützt wird, der ohnehin in der Lage ist, zuhause in Sicherheit zu sein, während ein anderer Teil der Bevölkerung den Schäden, die der Lockdown verursacht, ausgesetzt wird, hat ein politisches Urteil zur Grundlage. Dieses in ein wissenschaftliches Gewand zu kleiden ist an sich schon eine Täuschung. Als diese Entscheidung getroffen wurde, sprach keinerlei wissenschaftlicher Beweis dafür, dass die totale Massenquarantäne einer gesunden Bevölkerung eine angemessene Politik wäre. Ein solches politisches Experiment war nie gemacht worden und ist selbst danach nicht wirklich einer kontrollierbaren Studie zugänglich. Noch eminenter ist aber die moralische Bankrotterklärung, die wir erlebten. Anstelle einer ehrlichen Evaluation der vermiedenen und der herbeigeführten Schäden wurde der Bevölkerung verkündet, die Wissenschaft habe gesprochen; der Fall war geschlossen. Politik und Medien hatten dann die Gelegenheit, ihre Gewänder in Trauer und Mitleid angesichts des durch das Virus herbeigeführten Leides zu zerreißen, ohne je zugeben zu müssen, dass ein Großteil des entstandenen Schadens politisch verursacht worden war. In Abwesenheit der Wissenschaft konnte der Mythos der „Wissenschaft“ ein Schild werden, hinter dem sich Politiker vor den Konsequenzen jener Entscheidungen schützen, die sie getroffen zu haben, leugnen
Ich denke, man kann inzwischen sagen, dass die verschiedenen an dieser fortgesetzten Katastrophe beteiligten Wissenschaften zutiefst gespalten sind. Zwar wurde den Stimmen der anderen Seite keine allgemeine Aufmerksamkeit zuteil, doch viele Hunderte Ärzte, Epidemiologen, Virologen und früherer Gesundheitspolitiker haben ihren Dissens in der Frage der totalen Quarantäne bekundet.
Es ist durchaus möglich, dass viele Tausende diesen Standpunkt teilen und ihn kundgetan hätten, wären wir dem Virus eher mit einer Diskussion als mit einer Massenpanik begegnet. Schließlich hat Jay Battacharya Recht, wenn er sagt, dass die Empfehlung der kritischen Wissenschaftler einer „angemessenen und balancierten Antwort“ anstelle eines utopischen Versuchs, totale Kontrolle über ein Virus zu erlangen, einmal „gesundheitspolitische Standardpraxis“ war. Nichtsdestotrotz findet sich in den kanadischen Medien fast keine Spur solcher konträren Meinungen; ich habe die Berichterstattung des CBC und der Globe and Mail verfolgt. Was sind die Konsequenzen daraus? Einige warnen, dass das „Vertrauen in die Wissenschaft“ beschädigt werden könnte. Dies ist die Sorge, welcher vier Wissenschaftler kürzlich in einem Artikel in The National Post Ausdruck verliehen. Sie fordern, was sie eine „gesunde Diskussion“ nennen. Aber schließlich treten diese Autoren für eine freiere Meinungsäußerung nur ein, um die Autorität eines einheitlichen Subjekts, genannt ‚Wissenschaft’, die in letzter Instanz auf Vertrauen und nicht auf Argumenten basiert, zu schützen. Diese Aussage ist vielsagend, da sie nicht von einer gut fundierten Billigung der Befunde einer besonderen Wissenschaft spricht – hierfür wäre kein Vertrauen vonnöten. Gemeint ist vielmehr eine generelle Disposition alles zu glauben, was die Druckgenehmigung einer wissenschaftlichen Institution trägt und autorisiert ist, innerhalb ihrer Gilde zu erscheinen. Dieses Verständnis der Wissenschaft ähnelt Platons „edler Lüge“ – einer Fabel, erzählt von einem Weisen, welche den leichtgläubigen Bürger der Polis davor bewahren soll, unterlegenen Mythen anheim zu fallen.
Ich bin überzeugt, dass das Vertrauen in eine „Wissenschaft“, die makellos, orakelnd und desinteressiert über jeder gesellschaftlichen Debatte thront, bereits in fatalem Ausmaß erodiert ist. Zu dieser Überzeugung bin ich gelangt durch viele Generationen geduldigen Studiums dessen, was Wissenschaften tatsächlich tun und wissen, als auch durch den Dogmatismus jener „edlen Lügner“, die die Skeptiker, deren Fragen unbeantwortet blieben, auf die enge Spur der „Verschwörungstheorien “ getrieben haben (dazu bald mehr). Ich möchte eintreten für eine neue Sicht, die eine mystifizierte „Wissenschaft“ durch diverse Wissenschaften ersetzt und Dissens als normal ansieht; die davon ausgeht, dass Grenzen des Wissens in der Natur der Dinge liegen und keine vorübergehende, dringend zu überwindende Peinlichkeit sind; die jene mit der heißen Nadel gestrickten moralischen Urteile, die der Politik zupass kommen und durch den Mythos Wissenschaft gedeckt werden, entlarvt. Ich bin seit langer Zeit der Ansicht, dass wir erst, wenn der Mythos der „Wissenschaft“ überwunden ist, erkennen können, was Wissenschaften sind und der Faszination durch das, was sie nicht sind, entrinnen können. Bedauerlicherweise scheint es allerdings eine der Offenbarungen der Pandemie zu sein, dass dieser Mythos sich immer tiefer in unsere gesellschaftliche Imagination eingräbt.
Über die Notwendigkeit der politischen Neuorientierung
Eine Persönlichkeit großer Überzeugungskraft während der jüngsten Phase der Pandemie war die theoretische Epidemiologin und Professorin an der Oxford University, Sunetra Gupta. Die Co-Autorin der Great Barrington Declaration ist Trägerin zahlreicher prestigeträchtiger Auszeichnungen für ihre wissenschaftlichen Leistungen. In ihren Schriften und Statements vertrat sie stets drei Argumente hinsichtlich des Umgangs der Politik mit der Pandemie: 1) „Lockdowns verzögern lediglich die unvermeidbare Ausbreitung der Krankheit“ 2) „der Lockdown ist ein Luxus der Reichen; eine Politik, die sich nur wohlhabende Länder, bzw. der wohlhabendste Teil der Gesellschaften dieser Länder leisten kann“ und 3) dass „der ärmste und gefährdetste Teil der Bevölkerung dazu gezwungen wird, die Hauptlast des Kampfes gegen das Coronavirus zu tragen, was die Arbeiterklasse und die jüngsten Glieder der Gesellschaft am härtesten trifft.“ Sie veröffentlichte diese Ideen in der Erwartung von „Meinungsverschiedenheiten und Debatten“. Sie hieß jeden Dissens willkommen, denn ihrer Ansicht nach sei es nur durch Debatte, „dass die Wissenschaft sich weiterentwickele.“ Zu Beginn der Pandemie hoffte die sich mit der politischen Linken identifizierende Wissenschaftlerin, die „klare Ansichten über die Umverteilung des Kapitals und die Wichtigkeit des Sozialstaats“ vertritt, dass ihre politischen Verbündeten die aus dem Lockdown resultierende Vertiefung bestehender sozialer Ungerechtigkeiten sowie das Entstehen neuer erkennen würden. Weder sollten ihre Hoffnungen noch ihre Erwartungen erfüllt werden. Anstelle von Debatte habe die Great Barrington Declaration „Verunglimpfungen, persönliche Attacken, Einschüchterungen und Bedrohungen“ hervorgerufen – einen „Angriff aus Zorn und Feindseligkeit“ von „Journalisten und Akademikern“ sowie seitens der Öffentlichkeit, auf den sie „vollkommen unvorbereitet“ und „erschrocken“ reagiert habe. Und all das für die Berufung auf das, was bislang als „gesundheitspolitischer Standard“ gegolten hatte – jene Aussage Jay Battacharyas, die ich wiederholt zitiere, da sie so aufrüttelnd auf die erkennbar unerkannte Neuheit der gegenwärtigen Situation aufmerksam macht.
Besonders kurios erschien das Setting, in dem die Great Barrington Declaration unterzeichnet wurde: ein hübsches Herrenhaus im ländlichen Westen Massachusetts‘ und Sitz des American Institute for Economic Research, einem Institut, gegründet auf der Vision einer Gesellschaft in „völliger Freiheit und privater Verantwortung“, in welcher „die Rolle der Regierung so beschränkt ist“, dass die „Individuen in einer wahrhaft freien Marktwirtschaft und freien Gesellschaft aufblühen können“ – eine Vision die gemeinhin als „libertär“ angesehen wird. Dies muss kein einfacher Ort für Sunetra Gupta gewesen sein, eine bekennende „linke“ Anwältin „einer vergesellschafteten Versorgungswirtschaft“ und Befürworterin „staatlichen Investments in verstaatlichte Industrien.“ Unter anderem wurde sie nunmehr von ihren Gegnern mit „Klimaleugnern“ in Verbindung gebracht (wenngleich dies an sich bereits eine Karikatur der eigentlichen Position des AIER darstellt, der in seinen Statements die Effektivität der gegenwärtigen Klimapolitik in Frage stellt und nicht den Klimawandel selbst). Doch was mich noch mehr interessiert ist die Verschiebung dessen, was für Gupta klar eine linke Position darstellt, in ein rechtes politisches Spektrum. Es zeigt, meine ich, wie unangemessen, entstellend und einengend diese antiquierten politischen Zuschreibungen geworden sind.
Die Begriffe „rechts“ und „links“ entstanden in der französischen Nationalversammlung im Jahr 1789, als die Unterstützer der Revolution vom Parlamentspräsidenten aus links und die Monarchisten rechts saßen. Mit der Zeit entwickelten sie sich zu Kennzeichen des Machtverhältnisses zwischen Staat und Markt und dienten somit als Standortbestimmung der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung und der Verteilung von Ressourcen. Heutzutage sind diese Zuschreibungen zu verbalen Zwangsjacken und Fesseln der sozialen Imagination verkommen.
Wie der Riese Prokrustes aus der griechischen Mythologie, der entweder die Gliedmaßen seiner Gäste amputierte oder ihre Körper streckte, um sie auf das Maß zu bringen, das seinem Gästebett entsprach, verwirren die Termini „rechts“ und „links“ unsere politische Realität mehr als dass sie sie beschreiben. Die Pandemie hat dies offensichtlich werden lassen.
Es ist ersichtlich und belegbar, dass Lockdowns und der andauernde wirtschaftliche Shutdown auf Kosten derer durchgesetzt worden sind, die am wenigsten in der Lage sind, sich selbst zu schützen. Zwar haben einige der ehemaligen „dicken Fische“ ebenfalls gelitten – Fluggesellschaften, Reiseunternehmen etc. wurden auf ganzer Linie dezimiert – faktisch jedoch haben die Armen und Schwachen einen größeren Preis bezahlt als die Stärkeren und Wohlhabenden. Verkäuferinnen mussten zur Arbeit erscheinen, während Beamte von Zuhause aus arbeiteten. Ein Arbeiter nach dem anderen verlor seine Arbeit, während der professionelle Dienstleistungssektor weiterhin boomte. Kleine Unternehmen gingen unter, während große über genügend Rücklagen verfügten, um fürs Erste fortzubestehen. Die finanziell am Rand des Ruins stehenden Bevölkerungsgruppen wurden in Drogenabhängigkeit, Obdachlosigkeit und Suizid gestürzt, während der gehobene Mittelstand und die Oberschicht unter wenig mehr als einem Zuviel an Gesellschaft ihrer Nächsten litt. Da die politische Linke lautstark vorgibt, die Stimme der sozial Benachteiligten zu sein, hätte man erwarten können, Kritik am Lockdown würde ein linkes Anliegen werden. Das Gegenteil ist auf dramatische Weise der Fall. Kritik kommt fast ausschließlich von Seiten der politischen Rechten. Nur wenige, besonders mutige Linke wie Sunetra Gupta schwimmen gegen den Strom.
Durch die Pandemie hindurch wurde jede Kritik an der institutionellen Massenquarantäne sowohl seitens der Politik und als auch der Mainstream-Medien entweder als irrational oder gar als nicht erwähnenswert abgetan. Als im Frühjahr Demonstranten in kleinen Gruppen vor dem Parlament von Ontario ihrem Unmut Luft machten, bezeichnete sie der Premierminister der Provinz als „Yahoos“ (Saukerle). Selbst er, der rechtspopulistische Politiker Doug Ford, wollte, dass jeder wissen möge, dass diese Demonstranten keine Mitbürger, sondern Untermenschen (subhumans) seien, deren Meinungen weder öffentliche Beachtung geschweige denn Anerkennung verdienten; schließlich sind die ursprünglichen „Yahoos“ in Jonathan Swifts Roman Gullivers Reisen „Bestien in menschlicher Gestalt“. Diese Beschimpfungen setzten sich fort. Als die „zweite Welle“ begann, argumentierten Kritiker der politischen Antwort auf das Pandemiegeschehen, dass die Anzahl der gezählten „Fälle“ mit der Anzahl der durchgeführten Tests zusammenhängen könnten; zweitens, dass positive Tests nicht notwendig tatsächliche Fälle im Sinne einer COVID-Symptomatik bedeuteten; und drittens, dass die Sterblichkeit deutlich niedriger sei als im Frühjahr, obgleich die sogenannten „Fälle“ zugenommen hätten. Diese Kritikpunkte wurden postwendend von André Picard in The Globe and Mail verunglimpft. Die Behauptung, die zweite Welle sei eher eine „Fall-demie“ („case-demic“), sei das Werk von Verschwörungstheoretikern und Fake-News-Verkündern. Wieder wurde impliziert, dass Leute wie ich, denen genau diese Ungereimtheiten der zweiten Welle ins Auge sprangen, zu einer Klasse von Menschen gehörten, deren Ansichten irgendein pathologisches Erscheinungsbild, Bösartigkeit oder ein sozialer Defekt zu Grunde liegen müsse, aufgrund derer diese Ansichten getrost ignoriert werden könnten.
Diese Mischung aus Herablassung und Verachtung traf später ebenfalls die Great Barrington Declaration. Diese Erklärung war The Globe and Mail noch nicht einmal eine Meldung wert. Da die Zeitung bereits zuvor in ihren Kolumnen festgestellt hatte, dass „Kanada im Krieg“ sei, stand sie wohl nicht in der Verpflichtung solch abweichenden Nachrichten zu berichten. Dennoch schrieb André Picard am 9. November über die Deklaration in einer Weise, die vermuten ließ, er denke, seine Leser würden von der Erklärung gehört haben und sicherlich seinen Abscheu über sie teilen. Der Text der Great Barrington Declaration bewegt sich lediglich im Vokabular der öffentlichen Gesundheitsfürsorge - sie argumentiert: Immunität unter jenen mit dem geringsten Risiko aufzubauen, während die Bevölkerungsgruppen mit einem hohen Risiko gezielt geschützt würden, würde die „beste und mitfühlendste“ Schadensbalance unter den gegenwärtigen Umständen erbringen – doch in Picards Darstellung erscheint die Erklärung unbegreiflich grausam und dumpf. „Was die Great Barrington Declaration wesentlich sagt, wenn man die Aufgeblasenheit ihres Stils durchschaut hat, ist, dass Profite wichtiger sind als Menschenleben, dass wir das Coronavirus wild durch die Bevölkerung rasen lassen sollen, und wenn die Vulnerablen auf dem Altar des Wachstums geopfert werden, sei’s drum.“ Dies ist eine erstaunliche Falschaussage – um so mehr als sie sich gegen einen sachlichen und wohlbedachten Vorschlag von herausragenden und qualifizierten Wissenschaftlern richtet und von einem Mann kommt, der sich explizit als Freund und Verteidiger einer bedrohten „Wissenschaft“ portraitiert. Was ich hier betonen möchte, ungeachtet der Fehlerhaftigkeit der Aussage, sind die kriegerischen und unzivilisierten Umgangsformen - als könne man entgegengesetzte Ansichten nur verächtlich machen, anstatt sachlich gegen sie zu argumentieren. Wo in all diesem Zorn kann eine zivile Stimme wie jene Sunetra Guptas ihr Plädoyer sprechen?
Ich sehe hier zwei große Probleme.
Das erste ist die aggressive Reziprozität, die „links“ und „rechts“ in einander bekriegende Fraktionen verwandelt hat und jede von ihnen in eine immer enger werdende ideologische Schublade steckt. Was der Feind sagt ist falsch – gänzlich und a priori – schließlich hat es der Feind gesagt.
Lassen Sie mich dies an einem Beispiel verdeutlichen: seit einigen Jahren bauen die Medien die Witzfigur des „Impfgegners“ auf. Der „Impfgegner“ ist nicht etwa eine Person, die den einen oder anderen Aspekt und das eine oder andere Element der Massenimpfung der Bevölkerung aus irgendeinem rationalen Anlass in Frage stellt – jene, welche die „korrekte Meinung“ für sich beanspruchen, würden schon im Voraus bestreiten, dass solche Fragen und guten Gründe überhaupt existieren – diese Figur ist vielmehr ein gesellschaftliches Feindbild, jemand, der per definitionem sträflich unwissend, egoistisch und unverantwortlich ist, und über dessen Argumente man daher hinwegsehen kann. Nachdem wir diesen Prügelknaben herbeigezaubert haben, ist es nunmehr ein Leichtes, einen neuen Sündenbock zu schaffen, den „Maskenverweigerer“. Auf Anhieb hat man eine Charakterisierung all derer, die die Politik des Lockdowns offen in Frage stellen. Tatsächlich sind Masken wissenschaftlich ziemlich umstritten. Bis Frühjahr letzten Jahres war die leitende Gesundheitsbeauftragte Kanadas, Teresa Tam, gemeinsam mit der WHO der Ansicht, dass Masken keinen Nutzen für den Schutz vor einem Erreger hätten, der so winzig ist wie das Coronavirus. Am 20. April dieses Jahres, veröffentlichte die Bürgerrechtsvereinigung von Ontario eine Studie des emeritierten Arztes Denis G. Rancourt, in welcher er die wissenschaftliche Literatur über Schutzmasken unter die Lupe nahm und zu dem klaren und deutlichen Fazit kam: „Masken funktionieren nicht.“ Es heißt weiter in dem Text: „Es hat zahlreiche zufallsbasierte kontrollierte Testversuche und meta-analytische Gutachten dieser Versuche gegeben, die zeigen, dass Masken und Respiratoren nicht hilfreich für die Bekämpfung und Eindämmung von Influenza-ähnlichen Atemwegserkrankungen oder solchen, die durch Tröpfchen und Aerosole übertragen werden, sind.“
Einige gegensätzliche, empirische Studien (d.h. unkontrollierte) widersprechen seiner Aussage und vertreten die These, dass Masken die Viruslast deutlich reduzieren und so ein Inokulum schaffen könnten, dass gewissermaßen als Protoimpfung dient. Es lässt sich aber sagen, dass die Wissenschaft in der Frage der Maske mindestens uneins ist und dass die meisten Studien, welche den Vorteil von Masken durch eine vermeintliche Reduzierung der Viruslast herausstellen, ihre schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit vieler Menschen unbeachtet lassen: wo gehen die durch die Maske blockierten Viren dann hin, etc.? Der einzige zufallsbasierte kontrollierte Testversuch mit Masken während der Pandemie fand meines Wissens im Frühjahr in Dänemark statt. Bei den mehr als 3000 Teilnehmern konnte zwischen Maskenträgern und Personen, die keinen Mund-Nasenschutz verwendeten, kein signifikanter Unterschied in der Anzahl der COVID-Infektionen festgestellt werden. Es ist wirklich schockierend, wie hier bloßer Ritualismus und Aberglaube als Wissenschaft ausgegeben wurden.
Rancourts Studie, ebenso wie die aktuellere dänische Studie, sollten, wenn schon keine entscheidende, so doch eine wichtige Rolle in der öffentlichen Debatte spielen, doch stattdessen ist der „Maskenverweigerer“ zum Inbegriff des asozialen, anti-wissenschaftlichen Trottel geworden.
Es ist nicht meine Intention, damit jegliches Ritual an sich zu verurteilen. Die Menschen waren in der ersten Phase der Pandemie so in Panik und Angst vor einander versetzt worden, dass eine gewisse Ritualisierung der Angst, zum Beispiel durch das Maskentragen, notwendig gewesen sein muss, um eine Rückkehr zu mehr oder weniger normaler humaner Interaktion zu ermöglichen. Ich wende mich lediglich gegen rituelle, Verhaltensweisen, die, als „wissenschaftliches“ Mandat getarnt, zur Grundlage für Ausgrenzung und legale Zensur gemacht werden.
Das erste Problem ist, dass Urteile gefällt werden, deren einziger Veranlassung die Dynamik der Feindseligkeit ist: der Feind meines Feindes ist mein Freund, was auch immer der Feind sagt oder denkt, ist falsch und so weiter. Als Donald Trump im Frühjahr sagte, die Antwort auf COVID dürfe nicht schlimmer sein als die Krankheit selbst, wurde dieser Gedanke für seine Gegner undenkbar und unaussprechlich, bloß weil er aus Trumps Mund kam. Diese Unfähigkeit, die Gedanken des Feindes zu denken, ist fatal für gründliche Argumentation. Dass die Kur nicht mehr Schaden anrichten solle als die Krankheit, geht zurück auf Hippocrates und bleibt wahr, auch als Äußerung eines Schurken. Beidseitige Polarisierung schafft gefährliche Dichotomien, die Gegensätzen, die unter einem Dach zusammengehalten werden sollten, spalten und einen Krieg der Halbwahrheiten anzetteln.
Das zweite Problem, dass ich sehe, ist die Unzulänglichkeit der nach „links“ und „rechts“ geordneten politischen Landkarte, auf welcher die gegenwärtigen Frontlinien gezogen werden. Die Schwierigkeit liegt in der Mangelhaftigkeit einer Analyse, die alle politischen Entscheidungen als auf einer Achse liegend kategorisiert, die von Staat zu Markt, von öffentlicher zu privater Vorsorge und von administrativer Kontrolle zu jener „völligen Freiheit“ führt, für die Sunetra Guptas einstiger Gastgeber, das Amerikanische Institut für wirtschaftliche Forschung eintritt. Der erste Parameter, der hierbei ignoriert wird, ist Größenordnung. Dieses Thema fand Eingang ins zeitgenössische politische Denken durch den österreichischen Autor Leopold Kohr, der im Jahr 1956 in seinem Buch Der Zusammenbruch der Nationen schrieb: „Hinter allen Formen gesellschaftlichen Elends steht eine Ursache: Größe. (…) Wann auch immer etwas falsch ist, ist etwas zu groß.“ Mit diesem Buch begründete Kohr eine neue Schule der politischen Ökologie, die sein Schüler und geistiger Nachfolger Ivan Illich als „soziale Morphologie“ bezeichnete. Die britischen Biologen D’arcy Wentworth Thompson und J. B. S. Haldane hatten die enge Passung zwischen Form und Größe in der Natur studiert und kamen zu der Schlussfolgerung, dass natürliche Formen nur in ihrer angemessenen Größenordnung existenzfähig seien, das heißt, die Form eines Adlers wäre nicht existenzfähig in der Größe eines Sperlings, noch wäre es die Form einer Maus in der Größe eines Elephanten. Kohr war der erste, der argumentierte, dass soziale Form und Größe die gleiche Korrelation aufwiesen. E. F. Schumacher, ein weiterer Student Kohrs verhalf diesem Argument später in seinem Werk Small is beautiful zu Popularität. Auch Illich entwickelte und erweiterte Kohrs Ideen in seinem Buch Tools for Conviviality.
Warum ist der Parameter der Größenordnung für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation von Bedeutung?
Unter dem Deckmantel, man wolle die Ausbreitung von COVID aufhalten, werden administrative Notstandsregelungen sowie Kontrollen auf Lebensbereiche ausgedehnt, die normalerweise außerhalb der Reichweite staatlichen Handelns liegen: Freundschaften, das Familienleben, die Religionsausübung, sexuelle Beziehungen etc. (Eine Toronter Lokalpolitikerin empfahl den Einwohnern ihres Wahlkreises in einem offenen Brief Masturbation unter dem Slogan ‚Du bist dein sicherster Partner!‘“) In der Vergangenheit wurden Vorrechte des Staates, die durch den Verteidigungsfall im Krieg gerechtfertigt waren, häufig weit über das Ende des Kriegs hinaus beibehalten, und so erscheint es auch hier weitsichtig anzunehmen, dass Elemente des gegenwärtigen Regimes den gegenwärtigen Notstand überdauern werden. Man kann bereits nach dem Modell des Nationalen Sicherheitsstaates die Umrissen eines neuen Gesundheits-Sicherheitsstaats erkennen. Die moderne Vorstellung eines gesellschaftlichen Körpers zusammengesetzt aus Individuen, mündigen Bürgern, die in Freiheit miteinander in Gemeinschaft treten, wird ersetzt durch die Vorstellung eines gigantischen Immunsystems, in dem das Individuum dem „Großen Ganzen“ verpflichtet ist, nach den Prinzipien von Risiko und der vorrangigen von Systemintegrität – eine gesellschaftliche Gemeinschaft verschiedener „Leben“, die schlussendlich in ein alles überbietendes, abstraktes „Leben“ mündet. Im Namen dieses neuen gesellschaftlichen Körpers, kann jede beliebige Pflicht potentiell ausgesetzt oder verordnet werden.
Das erschütterndste und vielsagendste Beispiel ist die Weise, in der die Sterbenden allein gelassen wurden – unbegleitet, unberührt, ungetröstet.
Doch ist dies keine Frage, auf die das links-rechts-Diagramm auch nur im Geringsten ein Licht zu werfen vermag. Die Antwort auf einen solchen Staat ist nicht etwa ein Markt, in welchem private anstelle von staatlichen Akteuren uns in die vermeintlich schützende Isolation von einander zwingen. Es geht vielmehr um die Größenordnung: die Vorrechte von Freundschaft, Zuneigung und gegenseitiger Hilfsbereitschaft - und auch von Kultur gegenüber den Imperativen des Systemerhalts. Wird es uns erlaubt sein, andere Götter zu haben neben dem der Gesundheit?
Ein zweiter Aspekt, der im vorherrschenden Links/Rechts-Schema nicht vorkommt, ist der der Konvivialität und Lebendigkeit. Diese Qualität ist in hohem Maße abhängig von dem, was der amerikanische Schriftsteller Ray Oldenburg „dritte Orte“ nennt – Orte, deren Charakter weder öffentlich noch privat, sondern ein Amalgam beider Sphären ist. Diese Orte gehen verloren, wenn die Volksgesundheit gegen „die Wirtschaft“ ausgespielt und Kritik am Lockdown – wie in dem oben zitierten Artikel André Picards – mit der Bereitschaft gleichgesetzt wird, die schwächsten Gesellschaftsmitglieder der Beförderung des Wirtschaftswachstums zu opfern. Der Metzger, der Bäcker und Hersteller von Kerzenleuchtern, sie alle tragen zum Bruttoinlandsprodukt bei, ebenso wie Amazon oder General Motors, aber sie gehören nicht wirklich zur gleichen Welt.
Zwar mag an „dritten Orten“ Geld die Hände wechseln; doch gehören viele der kleinen Unternehmen, die einen überschaubaren Ort bewohnbar, lebendig und einladend werden lassen eher zur Welt der Subsistenz als zur „Wachse-oder-Stirb“-Welt von „The Economy“. Die darstellenden Künste gehören ebenso zu dieser Kategorie. Diese ganze Dimension wurde während der Pandemie schwer und oft tödlich verletzt.
Unternehmen, die über Jahre geduldig aufgebaut und in Gemeinschaften hineingepflanzt worden waren, gehen nun unter. Bisweilen wurde die Konvivialität selbst zum Schimpfwort, wie in der Karikatur der rücksichtslosen jungen Leute, die Alten dadurch gefährden, dass sie ihnen zu nahe kommen, Doch all dies passt nicht recht auf eine Achse, auf der eine maskierte Linke gegen unmaskierte Rechte ausgespielt wird, Konvivialität mit „Wirtschaftswachstum“ verschmolzen und die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten bewaffneten Milizen, die amerikanische Bundesstaatsparlamente bedrohen, überantwortet wird.
Worauf dies alles hinweist, – die „Offenbarung“, in der Begrifflichkeit meines Themas - ist die dringende Notwendigkeit einer politischen Neuorientierung. Links und rechts sind sehr alte Weinschläuche, die überall um uns herum platzen, weil sie genutzt werden, um sehr jungen Wein zu fassen. Sunetra Gupta findet einen Platz nur noch unter Libertären, die Freiheit mit freien Märkten gleichsetzen, da es keinen Platz in der politischen Linken für eine Haltung gibt, welche den Traum von totaler Sicherheit und Kontrolle zersetzt. Gleichzeitig bejaht die libertäre Bewegung ihrerseits undifferenziert den freien Markt als einzig mögliche Grundlage wirtschaftlicher Gerechtigkeit, da sie als einzige Alternative einen tyrannischen Staat sieht. Die Gläubigen werden in die rechte Ecke gedrängt, da für die Linke Religiosität nicht mehr als ein widerrufbares Privileg ist, garantiert durch jenen „sterblichen Gott“, der der Staat ist. Die Freunde des Gemeinwohls werden in die Arme der politischen Linken getrieben, da sie nichts als einen Götzenkult der monströsen Maschinerie des Markts im rechten politischen Spektrum vermuten. Sie verteidigen Lockdowns als „Fürsorge“, während sie den massiven Kollateralschaden ignorieren, der durch institutionelle Fürsorge angerichtet werden kann, wenn diese in der Größenordnung einer Massenquarantäne verordnet wird. Die Rechte gesteht zwar den Schaden ein, ist aber lediglich in der Lage, eine alternative industrielle Fürsorgepolitik im Rahmen eines Wirtschaftssystems zu formulieren , das rapide die gesamte Biosphäre auffressen würde. Ist es nicht an der Zeit, miteinander zu sprechen?
Verschwörungstheorien
Ich habe bereits von dem Gesundheits-Kolumnisten der Globe and Mail berichtet und von seinem Ansinnen, jeden als „Verschwörungstheoretiker“ zu diffamieren, der eine Politik in Frage stellt, die sich auf „Fallzahlen“ gründet, die häufig – niemand weiß, wie häufig – keine Erkrankungsfälle, sondern lediglich positive Testergebnisse wiederspiegeln. Genährt von der obskuren Figur QAnon wurde die Verunglimpfung jener immer salonfähiger, die nicht akzeptieren wollten, dass der Sieg über COVID den Ruin wert sei, der möglicherweise angerichtet wird.
Das Schimpfwort „Verschwörungstheoretiker“ ist so bequem und so rätselhaft, dass ich denke, man sollte ein wenig genauer der Frage nachgehen, was der Begriff meint und was er verschleiert.
Lassen Sie mich mit einer Geschichte beginnen. Vor einigen Jahren, deutlich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon, kam einer meiner Kollegen und Freunde vom CBC mit einer Anfrage zu mir. Er fragte mich konkret, ob ich bereit wäre, eine Serie von Radiosendungen für das Programm Ideas (Ideen), dessen Produzent ich zu dem Zeitpunkt war, über Lücken und mögliche Fehler an der offiziellen Darstellung der Ereignisse zu starten. Dieser offizielle Bericht wurde im August 2004 vom offiziellen Untersuchungsausschuss, der überparteilichen Nationalen Kommission für Terroranschläge gegen die Vereinigten Staaten (abgekürzt bekannt als „9/11-Kommission“) vorgelegt. Mein Kollege stellte mich zunächst aber vor eine Herausforderung: bevor ich mich dafür oder dagegen entscheide, solle ich wenigstens David Ray Griffins 2004 erschienenes Buch Das neue Pearl Harbor: Verstörende Fragen zur Bush-Administration und 9/11 lesen. Wie ich erfuhr, war Griffin ein anerkannter Professor für Philosophie an der Claremont School of Theology im Süden Kaliforniens, einer Brutstätte eher der „Prozess-Theologie“ als der Verschwörungstheorie. (Griffin ist einer der Exponenten der Prozess-Theologie und begründete gemeinsam mit John Cobb das Zentrum für Prozess-Studien an der Claremont School. Die Prozess-Theologie ist eine Denkschule, die von der Philosophie A. N. Whiteheads geprägt ist.) Davon fasziniert, folgte ich der Bitte meines Kollegen und war beeindruckt und verdutzt von Griffins ruhigem, ausgewogenen, gut argumentierten und gut dokumentierten Buch. Zu diesem Zeitpunkt bestand keine Chance, dass Ideas den Vorschlag meines Kollegen zulassen würde, da Griffins Buch, trotz der akademischen bona fides des Autors, in zahlreichen journalistischen Kreisen der Ruch der „Verschwörungstheorie“ anhaftete. Nichtsdestotrotz war ich interessiert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten mich solche Theorien nicht im Geringsten interessiert und ich hatte angenommen, sie seien eine Besessenheit von Spinnern. Doch war ich überrascht, von Griffin zu erfahren, dass im ähnlichen Fall des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor im Jahr 1941 – einem Überfall, der ebenfalls als erwünschter casus belli diente – ernst zu nehmende Historiker Beweismittel geliefert hatten, die belegen sollten, dass die USA einen Angriff erlitten, den sie hätten vorhersehen können (und möglicherweise vorhersahen), um das Volk zu den Waffen zu rufen. (Ich meine damit weder, dass dies eine in weiten Kreisen akzeptierte These ist, noch konstatiere ich, dass sie überzeugend dargestellt wurde. Ich weise lediglich darauf hin, dass einiges an Beweismaterial mit der Zeit Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden hat, was für diese Behauptung spricht. (Vgl. beispielsweise: John Toland, Infamy: Pearl Harbor and Its Aftermath, Doubleday, 1982.)
Ich entschied mich daraufhin, einige kleine informelle Untersuchungen anhand des Falles der Ermordung John F. Kennedys im Jahr 1963 und des offiziellen Berichts über die Ereignisse seitens der Warren-Kommission im darauffolgenden Jahr anzustellen. Wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte, fragte ich Menschen, ob sie den Bericht der Kommission als Wahrheit über den Mord an Präsident Kennedy akzeptierten. Die Ergebnisse dieser Befragungen stellten einmal mehr eine Überraschung dar: unter jenen, die eine Meinung zu den Ereignissen hatten, konnte ich nicht eine einzige Seele finden, die nicht der Ansicht war, dass die Warren-Kommission die Wahrheit darüber, was im November 1963 in Dallas geschehen war teilweise oder vollkommen übersehen, bzw. verheimlicht hatte. Ein weiterer bemerkenswerter Fall war die Fernsehserie „Heldenmut und Schrecken“ (The Valour and the Horror), welche im CBC im Jahr 1992 ausgestrahlt wurde. In einer Episode mit dem Titel „Tod bei Mondschein“ (Death by Moonlight) wurde die Behauptung aufgestellt, dass die Luftwaffe der alliierten Streitkräfte im zweiten Weltkrieg bewusst Gräueltaten gegen die deutsche Zivilbevölkerung begangen hatte. Einige meiner älteren Verwandten hatten am Luftkrieg teilgenommen und ich erlebte die Wut, die der Ausstrahlung der Serie folgte. Der Streit ging zum Teil darum, was die Zeitzeugen damals tatsächlich wussten und zum Teil darum, wie das strategische Bombardement“ deutscher Städte 50 Jahre später dargestellt werden sollte. Es war nicht neu, dass deutsche Zivilisten in beabsichtigten Feuerstürmen in Hamburg, Dresden und anderen Städten regelrecht verbrannt worden waren. Der Streit hatte sich vielmehr darüber entzündet, ob diese Taten als Verbrechen betrachtet oder weiter schützend in das heroische Narrativ der mutig ertragenen Unausweichlichkeit im Kampf um die Verteidigung der Freiheit gekleidet werden sollten.
Was wir über die Vergangenheit sehen und sagen können, ändert sich mit zunehmender historischer Distanz und mit zunehmender Intensität unserer persönlichen Verbindung zu dem, was wir betrachten.
Es wird mit der Zeit einfacher, die konspirative Dimension politischer Weichenstellungen zu erkennen, über die nur wenige entscheiden, deren Konsequenzen aber von vielen erlitten werden.
Wie bezieht sich diese lange Einleitung auf die Pandemie? Nun, es erscheint mir, als sei stets eine gewisse Mystifikation mit dem Begriff des Verschwörungstheoretikers verbunden, seit dieser Terminus eine griffbereite und großzügig verwendete Beschimpfung wurde, wie wir zuvor am Beispiel André Picards sahen. Eine Verschwörung von vornherein auszuschließen ist ebenso fatal für eine vorurteilsfreie Untersuchung wie die Annahme einer solchen. Nehmen wir den merkwürdigen Fall von Event 201, dem Pandemie-Planspiel, das als „Übung“ im Oktober 2019, am Vorabend der Pandemie, getragen von einer Partnerschaft bestehend aus der Bloomberg School for Public Health an der Johns-Hopkins-Universität, dem World Economic Forum und der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung stattfand. Laut den Organisatoren war dies „eine Serie dramatischer, szenario-basierter, konstruierter Beispiele, durch welche schwierige, lebensnahe Dilemmata mit einer hypothetischen aber wissenschaftlich plausiblen Pandemie konfrontiert werden.“ Während dieses Planspiels wurden viele Besonderheiten der gegenwärtigen Pandemie recht akkurat vorhergesehen. Nach der Dokumentation Plandemic war dies der Tatsache geschuldet, dass die Pandemie vorhergesehen und durch eine Kabale aus Impfstoffherstellern und -sponsoren geplant war, mit Bill Gates als Bösewicht an der Spitze. Diese Dokumentation weist viele der Merkmale auf, die man in einer Schulbuch-Beschreibung des Begriffs „Verschwörungstheorie“ finden würde: bruchstückhafte und widersprüchliche Beweise werden in einfache, vorgefertigte Schablonen gepressed, den mutmaßlichen Verschwörern werden dunkle Motive angehängt, gegensätzliche Argumente werden bewusst ignoriert etc. So ist es schließlich ein Leichtes, das ganze Argument des Films abzulehnen und derweil aus den Augen zu verlieren, was an der Tatsache, dass Event 201 die Pandemie so präzise vorhersah, tatsächlich frappierend ist.
Man muss noch nicht einmal an eine Verschwörung glauben, um zu erkennen, dass viele der Narrative, von denen die SARS COV-2-Politik getrieben wird, im Voraus entstanden oder dass die Ereignisse der letzten Monate seit langem vorhergesehen und die Reaktion auf sie geplant wurde – so gingen beispielsweise Event 201 drei frühere Operationen voraus, beginnend mit Atlantic Storm im Jahr 2005. Ereignisse fallen oft in Formen, die wir für sie vorbereitet, erplant, erträumt haben. 9/11 mag zwar kein „Inside Job“ gewesen sein, wie David Ray Griffin unterstellte, aber es war sicher die Gelegenheit, auf welche die Bush-Administration, nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl kaum legitimiert, gewartet hatte und so verschwendete sie auch keine Zeit nach den Anschlägen, zu ihrem katastrophalen Krieg gegen den Terror aufzurufen. Auf die gleiche Weise scheinen der Krieg gegen das Virus und die zahlreichen Experimente sozialer Kontrolle, die er hervorrief, Denkformen zu sein, die lange vorbereitet, nur auf ihren Einsatz warteten.
Meine Aussage hier ist dem Punkt über politische Feindseligkeit und Polarisierung, die jede Grundlage für Diskussion zerstören, ähnlich.
Wer wird nicht alles als Verschwörungstheoretiker abgetan, wenn er nur eine Frage stellen will, und wie viele andere werden in echte Verschwörungstheorien getrieben, wenn ihre Fragen nicht beantwortet und noch nicht einmal anerkannt werden?
Das Bewusstsein für dieses Problem begann bei mir mit der bereits erwähnten Figur des Impfgegners zu wachsen, einem erniedrigenden Schimpfwort, das sich in der politischen Diskussion vor wenigen Jahren beinahe über Nacht zu etablieren schien. Dies betraf auch mich, der ich für viele Jahre über das Thema Impfen nachgedacht hatte, ohne zu einer klaren Schlussfolgerung zu gelangen – vielmehr stellte ich Fragen. Der Fragesteller verschwand allerdings in Folge der „Impfgegner“-Debatte beinahe gänzlich. Meine Fragen begannen aufzukeimen, als mein Sohn als Säugling im Alter von acht Monaten im Gefolge seiner Masern-, Mumps-, Rötelimpfung unter einer beängstigenden, potentiell tödlich verlaufenden zerebralen Meningitis litt, die er glücklicherweise überlebte. Meine Frau und ich hörten bald von weiteren solchen Fällen. Ich weiß, dies sind anekdotische Beweise, ja, aber ich begann mich zu fragen, ob man den Zusammenhang zwischen der Impfung und der Meningitis tatsächlich beweisen könne. Kinder und Jugendliche, die entsprechend der offiziellen Leitlinien geimpft werden, erhalten bis zu 16 verschiedene Impfungen, von denen viele wiederaufgefrischt werden müssen.
Kann irgendjemand mit Sicherheit sagen, dass er alle Nebenwirkungen und Kreuzreaktionen kenne? Es sollte zumindest kein Streitpunkt sein, dass dies ein massiver Versuch ist, das Immunsystem zu ergänzen und zu manipulieren. Ist es wirklich unmöglich, dass die Epidemie von Allergien und Autoimmunerkrankungen, welche unsere Zeit charakterisieren, wie einige annehmen, mit dieser systematischen Interferenz in die körpereigene menschliche Abwehr zusammenhängt? Geht es uns nicht vielleicht doch besser mit weniger Impfungen, natürlich in Anerkennung der Tatsache, dass einige von unschätzbarem Wert sind?
Um überhaupt mit der Antwort auf solche Fragen zu beginnen, ist es notwendig, zunächst anzuerkennen, dass sie sowohl eine philosophische als auch eine empirische Dimension haben. Es gibt Grenzen des Wissens in der Erforschung komplexer Systeme, aber diese werden in der Bemühung darum, das oben bereits besprochene „Vertrauen in die Wissenschaft“ zu stärken, geleugnet. Diese Grenzen des Wissens müssen anerkannt werden, ebenso wie die konsequenten Grenzen dessen, was Menschen im Namen der Wissenschaft auferlegt werden kann. In diesem Rahmen kann es dann möglich werden, etwas Licht auf die empirische Dimension, von der ich sprach, zu werfen. Doch die Vorzeichen stehen in dieser Frage nicht günstig. Lassen Sie mich einige Beispiele geben: in einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „Geimpft: von der Vertuschung zur Katastrophe“ (Vaxxed: From Coverup to Catastrophe) wurde behauptet, dass während einer Studie des CDC über eine mögliche Korrelation zwischen Autismus und der MMR-Impfung Dokumente vernichtet und Daten manipuliert worden waren, um aufkommende Beweise für einen immer offensichtlicher werdenden entsprechenden Zusammenhang verschwinden zu lassen. Diese Behauptung wurde von einem der involvierten Wissenschaftler namens William Thompson in einem mitgeschnittenen Telefonat mit dem Umwelt-Biologen Brian Hooker aufgestellt. Thompsons Bericht mag falsch oder auf irgendeine Art manipuliert sein, aber zunächst schien der Bericht beeindruckend und hätte zumindest zu einer weiten öffentlichen Diskussion führen sollen. Was stattdessen passierte war, dass der Film wirksam unterdrückt wurde. Dies begann als Robert de Niro unter Druck eine Präsentation des Films im Rahmen des Tribeca Film Festivals im Jahr 2016 absagte. Seither ist der Film aus dem Internet verschwunden und kann nur noch über die Website des Filmmachers erworben werden. Die Wikipedia-Biographien aller Protagonisten des Films zeigen Beweise für böswillige Manipulation der angeblichen Fakten, gespickt mit wiederkehrenden Bezichtigungen des Betrugs, der Verbreitung falscher Informationen, diskreditierten Ansichten und so weiter. Dies erweckt nicht gerade den Eindruck einer fairen, ehrlichen und offenen Diskussion, sondern eher den einer skrupellosen Orthodoxie, die jeden Dissens diffamiert.
Ein weiteres Beispiel: ich habe unzählige Male gelesen, dass der britische Arzt Andrew Wakefield der Autor einer betrügerischen Studie sei, die - zunächst in The Lancet veröffentlicht, dann aber zurückgezogen - einen Zusammenhang zwischen Autismus und der MMR –Impfung behauptet. Eine solche Wiederholung produziert für gewöhnlich Zustimmung – wenn jeder es glaubt, dann muss es wahr sein – und ich hatte diese Behauptung unbedacht akzeptiert, bis eine Freundin mich fragte, ob ich die diskreditierte Studie überhaupt gelesen habe. Nein. Könne sie sie mir zukommen lassen? Ja, selbstverständlich. Ich las sie und fand heraus, dass Wakefield lediglich einer von dreizehn Autoren dieses ziemlich technischen Papiers war zu keinem endgültigen Ergebnis kam, außer festzustellen, dass die Enterokolitis, die von den Autoren in zwölf Kleinkindern beobachtet werden konnte, mit einer „neuropsychiatrischen Dysfunktion“ zusammenhängen könnte und dass „die Symptome in den meisten Fällen nach einer Masern-, Mumps-, Rötelimpfung auftraten.“ Die Studie endet mit einem Aufruf zu „weiteren Diskussionen“. Diese milde und eher vorsichtige Schlussfolgerung sollte nun also die berühmte Lüge sein? Ich war erstaunt. Weitere Forschung offenbarte, dass Wakefield in seinen öffentlichen Stellungnahmen weiterging als in dem Text, aber nur so weit, zu sagen, dass er in ausreichendem Maße besorgt über den in der Studie geschilderten möglichen Zusammenhang sei, um eine Entkopplung der Tripelimpfung zugunsten separater Impfungen gegen jede der drei Krankheiten mit einem Jahr Abstand zwischen den Impfungen zu empfehlen. Das genügte, um ihn zum „Impfgegner“ zu machen. Nichtsdestotrotz wurde ihm die Zulassung als Arzt entzogen, er wurde aus dem medizinischen Register entfernt und sein Ruf und Name weltweit ruiniert.
Es liegt ein weites Feld zwischen der Behauptung, dass die SARS COV-2-Pandemie ein geplantes Ereignis war, dessen viraler Protagonist in einem Labor in Washington oder Wuhan erschaffen wurde, und der Annahme, dass Impfstoffhersteller und ihre philanthropischen Freunde in der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung unschuldige Altruisten sind, die sich in selbstloser Weise einer krankheitsfreien Welt verpflichtet fühlen.
Doch tendiert die öffentliche Diskussion dazu, sich in Extreme drängen zu lassen. Verschwörung ist eines der Etikette, die die Debatte in den Extremen halten.
Wie bei meinen ursprünglichen Beispielen von Pearl Harbor, dem strategischen Bombardement deutscher Städte, der Ermordung Kennedys und 9/11 beobachtet, ist es durchaus möglich, dass Elemente der Wahrheit, von denen jetzt nicht gesprochen werden darf, mit der Zeit glaubhafter werden. Vielleicht haben sich mächtige Impfstoff-Hersteller mit britischen Gesundheitsbehörden verschworen, um Andrew Wakefield in Misskredit zu bringen und seine Forschungen zu unterdrücken. Ich bin mir sicher, dass ich das nicht weiß. Noch wissen es viele derjenigen, die glauben, es zu wissen. Vielleicht, um es noch komplizierter zu machen, ist das öffentliche Vertrauen in Impfungen ein so wertvolles und fragiles Gut, dass die Beschimpfung und Verfolgung des gelegentlichen Impfstoffsicherheitshäretikers nun einmal der kleine Preis ist, den wir dafür bezahlen müssen. Schließlich adelt Sokrates die „edle Lüge“ und die „opportune Unwahrheit“ zu einem ‚guten Grund’. Meine Überzeugung ist die, dass, wie ich geschrieben habe, der Glanz der „Wächter“ – Platons Name für jene, die in unserer Zeit Anwälte des „Vertrauens in die Wissenschaft“ sind – heute unmöglich wiederhergestellt werden kann.
Unsere einzige Hoffnung liegt daher in einer offenen, friedlichen und entmystifizierten Diskussion. Zu welchem Zweck? Ich wiederhole nicht einfach den unmöglichen Traum des Sokrates, dass die Philosophen Könige werden und die Könige Philosophen – die einzige Bedingung, wie er sagt, unter der die Übel beendet werden könnten. Ebensogut kann man hoffen, dass die Sanftmütigen, die Erde erben mögen. Nur die Außerordentlichkeit unserer Lage– menschlich, politisch und ökologisch – lässt dies möglich erscheinen.
Unser Gesundheitsfürsorgesystem schützen
Die Pandemie hat keine befremdlichere Aussage als diese hervorgebracht, und doch hören nur wenige darin eine Ironie. Wir befinden uns unserem Premierminister zufolge in einer „Gesundheitskrise“, der schlimmsten in unserer Geschichte,. In einem solchen Moment möchte man hoffen, dass ein Gesundheitsfürsorgesystem, dass nahezu die Hälfte des Budgets der Provinz Ontario verschlingt, alle ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen mobilisieren würde, um uns zu schützen – stattdessen werden wir aufgefordert, es zu schützen. Dass unsere Gesundheitsinstitutionen nicht überfordert, überstrapaziert, überwältigt und an den Rand ihrer Belastbarkeit getrieben werden dürften, ist seit Tag Eins der Pandemie eines der wichtigsten Belange der Politik gewesen. Von Anfang an hatte dieses Ziel breite Zustimmung gefunden. Dass Krankheit jene Institution bedroht, die nachweislich dazu da ist, sich der Krankheiten anzunehmen, ist bemerkenswert. Ich denke, dies stellt eine weitere „Offenbarung“ der Pandemie dar. Wie kann das sein?
Unser Gesundheitsfürsorgesystem ist in Wahrheit kein System der Fürsorge, einmal angenommen, es gäbe überhaupt so etwas. Es ist eine gigantische Bürokratie, die dazu da ist, bestimmte gesundheitliche Eingriffe nach eigenen Erfordernissen zu verwalten.
Die Tatsache, dass viele dieser Eingriffe ausgeklügelt, lebenserleichternd und gekonnt gehandhabt werden, ändert nichts an dem unpersönlichen und industriellen Charakter des Systems. (Hierbei stellen Notaufnahmezentren eine gewisse Ausnahme dar, und ich möchte an dieser Stelle meine Dankbarkeit für die kompetente und zügige Behandlung, die ich häufig in verschiedenen Notaufnahmestationen erlebt habe, ausdrücken.) All dies bedeutet, dass die krankenhausbasierte Medizin nicht dazu geschaffen ist, mit einer Notlage wie der, die wir gegenwärtig erleben, umzugehen.
Die Überlastung der Krankenhäuser im Zuge der Pandemie erscheint bisweilen überraschend gering. Krankenhäuser in New York, Montreal und Mailand erlebten sicherlich im Frühjahr kurze angespannte Perioden, über welche in den Medien ausgiebig berichtet wurde. An vielen anderen Orten passierte das Gegenteil. Beispielsweise wurden in Toronto die Menschen so effektiv davor gewarnt, ins Krankenhaus zu gehen, dass befreundete Krankenhausangestellte mir von leeren Betten und nicht ausgelastetem Personal berichteten. Gleichzeitig brachte die dankbare Öffentlichkeit außerhalb der Festungsmauern, mit Kochlöffeln und Töpfen klappernd, den Krankenhausbediensteten Pizza als Zeichen der Unterstützung ihrer „Gesundheitshelden“. Fast alle Behandlungen und Dienste, die nicht im Zusammenhang mit COVID standen, wurden drastisch reduziert. Es ist durchaus möglich, dass die gefährlichen Konsequenzen dieser verspäteten Diagnosen und Behandlungen mit der Zeit bei weitem den Schaden des Virus übertreffen werden.
Es stellt sich schließlich die Frage, ob Krankenhäuser, abgesehen von seltenen schweren Fällen, überhaupt der beste Ort für an dem neuen Coronavirus erkrankte Menschen sind. Man denkt hier an die Panik angesichts der Beatmungsgeräte, die sich im März und April Bahn brach. Würden wir genügend Geräte zur Verfügung haben? Eine Fabrik in Ontario, die gewöhnlich Autoteile herstellt, stellte 10.000 Beatmungsgeräte zur Verfügung; ein Hersteller für elektronisches Zubehör versprach weitere 10.000.
Dann kam der Verdacht auf, dass Beatmungsgeräte aktiv schädlich für COVID-Patienten sein könnten und dass Intensivstationen sie manchmal sogar nutzten, um die eigenen Mitarbeiter vor einer Infektion zu schützen, anstatt im besten Interesse der Patienten zu handeln. Man fragt sich, ob dieser Teil der Wahrheit jemals ganz erzählt werden wird. Es wird viel davon geredet, wie sehr sich die Therapie von COVID verbessert habe – in Großbritannien erhalten nun lediglich 26% der COVID-19-Patienten nach ihrer Einweisung in die Intensivstation ein Beatmungsgerät, verglichen mit bis zu 76% auf dem ersten Höhepunkt der Pandemie. Gleichzeitig wird weniger über den Schaden gesprochen, den Beatmungsgeräte während der experimentellen Phase möglicherweise angerichtet haben. Die CBC-Radiosendung Now or Never. berichtete beispielsweise von einem 73 Jahre alten Mann, der 104 Tage an einem Beatmungsgerät verbrachte und nun ein Schwerbehinderter ist auf Vollzeitpflege von seiner 29 Jahre alten Tochter angewiesen. Die Sendung hatte die heroische Wohltätigkeit der Tochter und die Belastungen, die damit einhergehen zum Thema; nicht etwa die Frage, ob die Behandlung ihres Vaters klug gewesen war.
Kranke brauchen Fürsorge. In Krankenhäusern werden Menschen, die an COVID leiden, von allen isoliert, die tatsächlich für sie sorgen möchten, da die Angst vor der Krankheit und ihrer potentiellen Verbreitung vor alle anderen Verpflichtung Vorrang hat. Könnte es sein, dass mehr Menschen zuhause besser versorgt gewesen wären? Die Antwort ist wahrscheinlich ja, wenn das Gesundheitssystem willens und in der Lage gewesen wäre, sich als im Interesse seiner Patienten neu zu orientieren. Stattdessen schlossen Arztpraxen landauf landab ihre Türen, Terminvereinbarungen für andere Beandlungen wurden abgesagt und die Krankenhäuser zogen ihre Zugbrücken hoch. Das Gesundheitssystem schützte sich selbst.
Die Rolle der Medien
Es ist bereits mehr als 40 Jahre her, dass ich von Noam Chomsky und Edward Herman durch deren zweibändiges Werk Die politische Ökonomie von Menschenrechten (The Political Economy of Human Rights) davon überzeugt wurde, dass auch eine vermeintlich freie Medienlandschaft als ein Propagandasystem funktionieren kann – dass es, wie die beiden Autoren in ihrem Buch schreiben, „Gehirnwäsche in der Freiheit“ geben kann. Medien sind immer voreingenommen – durch ihre eigene Struktur, wie Harold Innis und seine Nachfolger zeigten, sowie durch die soziale, politische und ökonomische Umwelt, in der sie operieren. Märchen von einer goldenen Vergangenheit, bloß erfunden, um auf eine dekadente Gegenwart einzudreschen, sind keine solide Grundlage einer fundierten Kritik. Und dennoch erscheint es mir, als hätten sich die Medien, deren Berichterstattung ich in der Pandemie ausgesetzt bin, zu neuen, ungeahnten Höhen der Bevormundung und der unkritischen Verlautbarung von Regierungspolitik aufgeschwungen.
Es liegt in der Natur der Nachrichtenmedien, ihren eigenen Einfluss auf das Berichtete zu leugnen und zu verheimlichen.
Sie insistieren darauf, dass Nachrichten nicht nur deshalb Nachrichten seien, weil die Nachrichtenmedien sie zu Nachrichten machen. Vielmehr seien sie bereits Nachrichten als Resultat irgendeiner inhärenten Qualität, die von den Medien lediglich erkannt und reproduziert werde. Dies stimmt natürlich zum Teil. Die Nachrichtenmedien passen sich der Volkspsyche, dem etablierten Geschmack und einem vor-geschriebenen Drehbuch narrativer Formen mehr an, als dass sie sie erfinden. Aber die Medien sind auch innovativ, indem sie die Aufmerksamkeit auf bestimmte Fakten lenken und bestimmte Narrative bekräftigen, während sie andere vernachlässigen. In der Pandemie – einem neuen Phänomen, das zunächst einmal Raum für zahlreiche Konstruktionen geschaffen hat – war die führende Rolle der Medien besonders auffallend. Dies begann mit dem Tag, an welchem die WHO bekanntgab, dass die Ausbreitung von COVID-19 als Pandemie zu gelten habe.
Daraufhin begann die umfassende Berichterstattung, die implizierte, dass gegenwärtig nichts anderes von Belang in der Welt geschehe. Ein Gefühl der Vorahnung großen Unheils wurde generiert. Alles war „beispiellos“. Eine „neue Normalität“ schien nahezu über Nacht vom Himmel zu fallen. Ein Not- und Ausnahmezustand wurde verhängt. Die Kriegsmetaphern nahmen Überhand. Als die Globe and Mail am 21. September in einem Leitartikel, aus dem ich oben bereits zitiert habe, ausdrücklich feststellte „Kanada [sei] im Krieg“, war dies die einzige Lesart, die in den großen Nachrichtenmedien seit Anbeginn der Pandemie vertreten und verbreitet wurde Die Zahlen wurden für den maximalen Effekt aufgebauscht. Besonders auffällig während der zweiten Welle war das konstante Herausposaunen von „Fallzahlen“, mit denen positive Testergebnisse gemeint waren, mit geringem Interesse daran, wie viele Erkrankte es eigentlich gebe, auf welche Weise die Fallzahlen in einem Verhältnis zur Anzahl der Tests stünden, wie verlässlich die Tests seien etc.
Der Nachdruck, der auf die Alarmierung gelegt wurde half dabei, einen Großteil der Bevölkerung in einen panischen Zustand zu versetzen, der wenig zu tun hatte mit den aktuellen Gefahren, die den Menschen drohten. Das schränkte auch die politischen Handlungsoptionen immer weiter eingeengt.
Politiker wurden für ihre Führungsstärke gepriesen, wenn sie strenge Regeln erließen und für ihre Laxheit unter Beschuss genommen, wenn Regeln gelockert wurden. Der Mythos, dass „wir“, wie ein anderer Globe-and-Mail-Leitartikel es formulierte, „die Herren unseres Pandemie-Schicksals sind“, wurde verkündet. Dabei ist die Idee leitend, dass alles, was geschieht, durch Politik veranlasst wird– als gäbe es nichts, was einfach erlitten werden muss, weil jeder Versuch, ihm entgegenzuwirken nur noch schlimmere Schäden anrichten würde; so wird durch jede COVID-Infektion eine jeweilige politische Führung in den Worten des gleichen Leitartikels in der Globe and Mail dazu gedrängt, „mehr zu tun“. Im Hintergrund lauert die lange gezüchtete Idee von „null Toleranz“, jetzt in Gestalt von „Covid-zero“ und anderer Fantasien zur totalen Unterdrückung des Virus. (Ich leugne hier nicht, dass einige Regionen – sei es aufgrund ihrer Größe, ihrer Situation oder besonders drastischer Maßnahmen wie im Falle von Melbournes 100-tägigem Lockdown in einem „Ring aus Stahl“ – niedrige Zahlen erreicht haben. Die Frage ist lediglich, für wie lange und zu welchem Preis?
Krieg führt zur Vereinheitlichung von Meinung, und dies war besonders evident beim CBC und der Globe and Mail. Während in den konservativeren Zeitungen wie der National Post und der Sun zunehmend ein gewisser Dissens zur Regierungslinie laut wurde, scheint es, dass sowohl die Globe, als auch der CBC sich nicht als Diskussionsplattformen, sondern als Wächter ‚korrekter’ Meinung verstehen. Die Zuhörer und Leser sollen ermutigt, aufgebaut und gelegentlich für ihre beginnende „Trägheit“ gezüchtigt werden, aber jederzeit als eine einheitliche und homogene „Masse“ angesprochen werden – alle darin einig, alle die gleiche sentimentale Verehrung unserer „Gesundheitshelden“ teilend etc.
Dies bedeutet, so denke ich, dass ein Elitekonsens, gestärkt von der elementaren Kraft mythischer Tropoi wie Krieg, Solidarität in der Krise, Loyalität, Heroik und Aufopferung in die öffentliche Meinung eingedrungen ist. Das Ergebnis war, dass dabei zwei wesentliche Realitäten verborgen, übersehen oder verschwiegen wurden.
Die erste ist die des wissenschaftlichen Dissenses, über den ich eingangs gesprochen habe. Die zweite sind die Residuen des Common Sense , der normalen Menschen, die instinktiv gegenseitige Hilfe und Sich-Durchwursteln der zentralisierten bürokratischen Kontrolle vorziehen. Ich weiß, dass der Begriff Common Sense vertrackt ist, da er häufig von Rechtspopulisten kooptiert wird, wie in Ontario Mitte der 1990er Jahre, als die konservative Regierung von Mike Harris ihre neoliberale laissez-faire-Politik und ihr Programm der „Amalgamation“ von Stadtverwaltungen als eine „Common-Sense-Revolution“ verkaufte. Doch diese offensichtliche Hinwendung des Populismus zum rechten politischen Lager verdeutlicht genau unsere Schwierigkeit. Viele Historiker, Anthropologen und politische Theoretiker unserer Zeit haben versucht, Formen des Widerstands gegen den Staat zu finden, die nicht in einem noch repressiveren Staat enden, wie die „Common-Sense-Revolution“ in Ontario oder hunderte andere Varianten von Faschismus über Peronismus zu Trumpismus. E. P. Thompson schrieb von der „moralischen Ökonomie der Masse“; James C. Scott beschrieb zahlreiche Formen des ethnischen und agrarischen Widerstands; Christopher Lasch portraitierte den amerikanischen Populismus als Verteidigung der moralischen und religiösen Integrität des Community-Lebens gegen eine Elite und einen drohenden „meritokratischen“ Zusammenbruch; und Ivan Illich versuchte, eine „vernakulare“ Sphäre auszumachen, in der sowohl Staat als auch Markt an der Leine gehalten würden. Jedoch werden diese Formen des Populismus zu einem Großteil ignoriert in dem journalistischen Diskurs, über den ich gesprochen habe. Das Ergebnis ist, dass der Populismus in die rechte Ecke gedrängt und seine Diskussionswürdigkeit geleugnet wird. Die unverblümte Verachtung für Trump-Wähler – siehe Hillary Clintons „Masse der Erbärmlichen“ – illustriert diese Dynamik.
Um konkret zu sein, der Widerstand gegen den Lockdown, die Masken und die Einschränkungen des Rechts auf Versammlungsfreiheit ist stetig gewachsen, beginnend mit den Demonstranten, die sich vor dem Parlament seit Frühling versammeln – jene Leute, die, wie ich schon bemerkt habe – seitens des Premierministers als „Yahoos“ kategorisiert werden. Diesen Herbst versammelten sich einige Tausend Menschen auf dem Dundas Square. Die Breite der Koalition, die diese Masse ausdmachte, ist schwer zu einzuschätzen, doch bürgerliche Freiheiten, Religionsfreiheit und ruinierte Existenzen schienen die Hauptanliegen gewesen zu sein, die die Demonstranten bewegten animierten. Bemerkenswert ist allerdings, besonders in Anbetracht der Größe dieser Demonstrationen, dass es, soweit ich weiß, keinerlei Bericht n den Leitmedien gab; außer der kurzen Erwähnung einer Verkehrsstörung wegen der Demonstration im Nachrichtensender CT24 – die Yonge Street war gesperrt. Dies ist ersichtlich nichts Geringeres als Zensur – wer muss wissen, was Yahoos fordern? So wird sicher die Nemesis heraufbeschworen, über die ich vorher sprach.
Jeglicher Dissens wird mundtot gemaht und die Zweifler werden auf gewalttätigere und destruktivere Wege politischer Reaktion gedrängt.
Ebenso besorgniserregend ist das Scheitern daran, die Meinungsvielfalt unter Ärzten, medizinischen Wissenschaftlern und Spezialisten für Volksgesundheit angemessen in die Öffentlichkeit zu bringen - man erinnere sich daran, wie viele medizinische und andere Wissenschaftler zu den Unterzeichnern des überhörten Aufrufs zu einem „ausbalancierten Umgang“ mit der Pandemie gehören. Dies bewirkt zwei Dinge. Es bestärkt das obsolete und oben von mir bereits kritisierte Bild von Wissenschaft als einer singulären, mit einer Stimme sprechenden Instanz, die über die Politik erhaben und in der Lage ist, jeden Disput autoritär zu bestimmen und von den Bürgern ein fragloses Vertrauen einzufordern. Und zweitens werden auf diese Weise Medien zu Wächtern oder Hirten der öffentlichen Meinung mit der Aufgabe , von einer anfälligen und leichtgläubigen Öffentlichkeit beunruhigende Nachrichten über Anti-Lockdown-Demonstrationen, widersprechende Epidemiologen oder die neuesten Studien zur tatsächlichen Wirksamkeit von Masken fernzuhalten. (Dies setzt selbstverständlich voraus, dass die Leittiere der öffentlichen Meinung, wach genug sind, um diese Dinge selbst zu wissen, anstatt genauso schafsköpfig zu sein , wie die, die sie zu führen vorgeben.)
Ökologie und die Pandemie
Zu Beginn der Pandemie regten sich einige hoffnungsvolle Stimmen, die die Idee vortrugen, die Pandemie sei, wie George Monbiot im Guardian schrieb, „ein Weckruf der Natur, an eine selbstgefällige Zivilisation.“ Der Klimaaktivist Bill McKibben verstand in einem Artikel im TLS die Pandemie ebenfalls als Warnung – „eine Trockenübung“ für ein kommendes Jahrhundert voller Schrecken, „in dem nichts mehr irgendwo seinen normalen Gang nehmen wird“. Ich nenne diese Stimmen hoffnungsvoll, da sie die Pandemie als einen Ruf zur Umkehr deuten. Gerne würde ich diese Ansicht teilen, doch finde ich es schwierig, in dem „Krieg“ gegen das Virus auch nur das leiseste Nachlassen des Verlangens unsere Zivilisation antreibenden Verlangens nach Beherrschung und Kontrolle zu sehen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein.: ein intensiviertes Bestreben, die „Herren unseres Pandemie-Schicksals“ zu werden, die Sieger über diese unbequeme Geißel, entschlossen, „Leben“ zu retten, selbst wenn das uns mehr „Leben“ kostet als wir retten – so, wie der amerikanische Kommandeur in Vietnam, der in einem Interview mit dem Associated-Press-Reporter Peter Arnett im Jahr 1968 sagte, es sei „notwendig, die Stadt zu zerstören, um sie zu retten.“ Dies schaut für mich nicht danach aus, als würde mit der Pandemie eine neue Ethik der Bewohnbarkeit anvisiert, die uns schließlich in eine Harmonie mit unserer verwüsteten Welt bringen werde.
Keiner weiß wirklich, woher das Virus kam. Es aber als ein Produkt der „Natur“ zu bezeichnen, ist wahrscheinlich zu weit gegriffen. Denn, ob es nun von einem Schuppentier, einer Fledermaus oder aus einem Labor kam, wie es die Produzenten der Dokumentation „Plandemic“ nahelegen: es ist sicher ein Produkt jener hybriden Natur/Kultur, welche dem unermüdlichen Druck der Menschheit entstammt, den sie auf jeden Teil, jeden Partikel unserer irdischen Heimstatt ausübt. Als solches ist das Virus also ein Teil der Welt, so wie Viren immer es immer schon waren, seit die Menschheit existiert. Viren haben uns geholfen – einige haben sich mit der Zeit in unsere DNA gewebt – und sie haben uns behindert – in einem solchen Ausmaß, dass wir über sehr robuste Verteidigungsmechanismen gegen den Virenregen verfügen, mit dem wir jeden Tag zu tun haben. Das bedeutet natürlich nicht, dass COVID-19 unser Freund ist, aber es bedeutet, dass wir es mit etwas Uranfänglichem zu tun haben; mit etwas, dass zur wilden und üppigen Kreativität der lebendigen Erde gehört, wie sehr es auch mit unserer Verabredung für nächsten Dienstag kollidiert. Man wünscht sich bisweilen etwas mehr von dieser Perspektive von jenen, die „zero COVID“ fordern, die „Herren unseres Pandemie-Schicksals“ werden oder „COVID besiegen“ wollen.
Der britische Biologe Mike Yeadon, den ich bereits zitiert habe, ist ein anerkannter Wissenschaftler und Forscher, spezialisiert auf „Entzündungen, Immunologie [und] Allergien im Kontext respiratorischer Erkrankungen“. Er erklärte kürzlich: „Der Gang des Virus durch die menschliche Bevölkerung ist ein völlig natürlicher Prozess, der unsere unerheblichen Bemühungen, ihn zu kontrollieren, vollkommen ignoriert.“ Meine eigenen Amateurrecherchen haben mich Schritt für Schritt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommen lassen. Doch jeder, dessen Ansichten von Politikern, Gesundheitsbeamten oder Medienpäpsten wie André Picard geformt werden, ist geneigt, solche Sichtweisen als völligen Unsinn abzutun; nicht nur fehlerhaft, sondern geradezu verräterisch gefährlich für das öffentliche Wohl. Jeder, der das Wasser dieser Quellen trinkt, meint zu wissen, dass das, was ein beliebiges Land durchlitten hat, fast immer eine Konsequenz der Art und Weise ist, wie Politiker und Gesundheitsexperten die Pandemie „gemanagt“ oder im Fall Donald Trumps „auf katastrophale Weise Missmanagement“ betrieben haben. Regelmäßig werden Länder miteinander verglichen, als ob der einzige relevante Unterschied zwischen ihnen das Ausmaß der von der jeweiligen Regierung veranlassten Beschränkungen sei.
Klima, Demographie, die geographische Situation, Gesundheitsstatus der Bevölkerung oder bereits existierende Immunität – alles wird mehr oder weniger ignoriert zugunsten der Idee, dass Regierungspolitik den entscheidenden Ausschlag bei der Verbreitung oder der Eindämmung des Virus gibt.
Lassen Sie mich einige Beispiele geben. Eines gibt Mike Yeadon in dem Vortrag, aus dem ich schon zitiert habe. Er bemerkt, dass Länder mit relativ hohen COVID-Fatalitäten wie Schweden, Belgien und das Vereinigte Königreich allesamt ungewöhnlich milde Grippewellen in den letzten zwei bis drei Jahren erlebten, während Länder mit niedrigeren Todeszahlen wie Deutschland oder Griechenland deutlich heftigere Influenza-Ausbrüche zu verzeichnen hatten. Dies insinuiert, dass der Unterschied zwischen beispielsweise Norwegen und Schweden, der immer wieder dem Unterschied beider Staaten in der Härte des Lockdowns zugeschrieben wird, tatsächlich eine Funktion der Anzahl der anfälligen älteren Menschen ist.
Ein weiteres Beispiel: in einem kürzlich veröffentlichten Papier in der wissenschaftlichen Zeitschrift Grenzen der Volksgesundheit (Frontiers of Public Health) wurde dargelegt, dass „[die] Stringenz der Maßnahmen zur Bekämpfung von Pandemien einschließlich der Lockdowns, nicht mit der Sterblichkeitsrate zusammenzuhängen scheint.“ Stattdessen fanden die Autoren heraus, dass der Parameter, der die Todeszahlen am besten voraussage, der Breitengrad sei (am höchsten sind die Zahlen zwischen den 25. und dem 65. Breitengrad), gefolgt vom Bruttoinlandsprodukt, und dem Gesundheitsstatus (Anzahl chronischer Erkrankungen, Inaktivität, etc.). Und drittens würde ich mit Yeadon auf die präexistierende Immunität in einer beliebigen Bevölkerung hinweisen. Yeadon argumentiert, dass sich bei Kontakt zu anderen Coronaviren Kreuzimmunität bilden kann – SARS COV-2 ist zu 80 Prozent dem ersten SARS-Virus ähnlich,. Es könnte also sein, dass ein Teil der Gesellschaft zu Beginn des Ausbruchs bereits immun gegen COVID-19 war. Dies ist relevant vor allem im Falle von Ländern wie Taiwan und Vietnam, die nur sehr wenige COVID-Tote zu verzeichnen hatten. Beide hatten nennenswerten Kontakt zum SARS-Virus, und es ist gut möglich, dass sie diese frühere Immunität in größerem Ausmaß besitzen als die Bevölkerungen der schwerer betroffenen westlichen Länder. Dies legt wiederum nahe anzunehmen, dass die Politik und der öffentliche Gehorsam weniger mit niedrigen Sterberaten zu tun haben, als dies allgemein unterstellt wird.
Ob Mike Yeadons Behauptung – dass unsere „gänzlich unerheblichen Bemühungen“, die Ausbreitung der Pandemie zu begrenzen, völlig ohne Ergebnis geblieben seien – schließlich bewiesen werden kann, bleibt abzuwarten. Was man aber zum jetzigen Zeitpunkt mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ist, dass es substanzielle Beweise dafür gibt, dass wir zum einen von einem kraftvollen und unaufhaltsamen natürlichen Vorgang im Griff gehalten werden und zum anderen, dass ein wesentlicher Teil der dreisten Behauptung, dass entschlossene Führungspersönlichkeiten mit maßgeschneiderten Maßnahmen diesen Prozess beherrschen könnten, überwiegend ein angeberisches Ritual anthropozentrischer Selbstüberschätzung darstellt. Die Schlussfolgerungen, die ich von diesen beiden Punkten ableite, sind nicht sehr tröstlich. Ivan Illich beschwor in seinem Vortrag in Toronto im Herbst 1970 eine Perspektive auf die Erde aus dem Weltall, die vor Kurzem vom amerikanischen Mann auf dem Mond eingenommen worden war. Dieses Bild, sagte er, könne auf zwei radikal verschiedene Weisen interpretiert werden: entweder als ein Ruf zur Umkehr, ein Ruf, zurück zu sinken in die Erde und in ihren Möglichkeiten zu leben oder aber ein Ruf „den Planet Erde zu managen“, wie The Scientific American später sagen würde oder, mit noch größerer Hybris, „den Planeten Erde zu retten“.
Die erste Interpretation betrachtet Illich als die Entscheidung, innerhalb unserer Gegebenheiten frei zu leben, mit Freude und gar wild. Die zweite Interpretation sieht er als eine Entscheidung, permanent mit dem Desaster umzugehen, immer genau an der Grenze dessen zu leben, was unsere Biosphäre gerade noch toleriert, und uns selbst in einem immer engmaschigeren Netz aus hygienischen und umweltpolitischen Kontrollen zu verfangen, um dieses prekäre Unternehmen „nachhaltig“ am Laufen zu halten.
Heute, wenn ich aus meiner Tür auf maskierte und ängstliche Menschen blicke, die auf der Straße vorbeigehen, fällt es schwer, nicht wahrzunehmen, dass Illichs Prophezeiung eingetreten ist. Seit dem Anbeginn der Pandemie gab es kritische Virologen, Immunologen und Epidemiologen, die drei wichtige Punkte herausstellten: erstens, dass niemand die Schwere der Krankheit einschätzen könne, zweitens, dass niemand wisse, wie verschiedene Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen die Krankheit überstehen würden, und drittens, dass niemand wisse, in welchem Verhältnis die möglicherweise vernichtenden Konsequenzen der prophylaktischen Massenquarantäne – Lockdowns - zu dem Leid, das durch die Krankheit selbst verursacht wird, steht. Aber diese Zweifel, wenn sie überhaupt Beachtung fanden, schienen keinerlei Zögern zu bewirken oder jene wachsame aber zugleich fragende und nachdenkliche Haltung zu evozieren, die bei einem solchen Ausmaß an Unwissenheit angemessen wäre. Von Anfang an wurde jede Stimme, die vom Erleiden-müssen, von Anpassung oder von Milderung sprach, als Fatalismus oder „Yahoo“-Rücksichtslosigkeit gebranntmarkt. Die Betonung lag nur auf Kontrolle – „das Virus zu Boden strecken“ – und auf Wissen – erworben durch die Kolonisierung und Zähmung einer ungewissen Zukunft durch mathematische Modelle, die auf „intelligentem Raten“ beruhen. Diese Haltung wurde von den Medien bekräftigt, die bereit standen, jeden Politiker zu verunglimpfen, der sich weigerte, diese Shibboleths zu akzeptieren oder nicht willens war, vorzutäuschen, dass Kontrolle möglich und wissenschaftliche Erkenntnis vorhanden sei. Und genau diese Medien, wie ich in einem früheren Essay schrieb, agieren als Repräsentanten imperativer Konzepte wie Risiko, Sicherheit, Management und Leben – Konzepte, die sich inzwischen in unserem Denken als unverrückbare Selbstverständlichkeiten eingegraben haben.
Was hat all dies mit dem ökologischen Notstand zu tun, um dessentwillen ich George Monbiot und Bill McKibben zu Beginn dieses Kapitels zitiert habe? Nun, es scheint mir, dass die Haltungen, die durch die Pandemie ans Licht kamen, nicht besonders viel Hoffnung aufkeimen lassen angesichts der katastrophalen Veränderungen der Erde, welche die beiden Autoren, als Resultat steigender Meeresspiegel und der Erderwärmung erwarten, jedenfalls nicht für jemanden wie mich, der ich den Weg, den Illich empfahl, favorisiere – ‚Konvivialität in Begrenztheit’, anstatt jenes anderen, vor dem er warnte – ‚Wachstum unter immer intensiverer Kontrolle’. Und selbst für jene, die die Notwendigkeit strikter Kontrolle bejahen und Illichs Vision des freudigen Verzichts für einen längst verblassten Traum halten, stellt sich die Frage, ob die Pandemiepolitik eine immerhin intelligente Kontrolle befördert hat. Überlegen wir: die Politik wurde eher von Panik als von Klugheit getrieben; Wissenschaft wurde gleichzeitig vergötzt und ignoriert; die Wohlhabenden haben sich in ihre Festungen zurückgezogen, während jene mit eher prekärem Lebensunterhalt, Unterkunft und sogar Lebensklugheit alleingelassen wurden; die allseitige politische Feindseligkeit hat sich intensiviert; politische Kategorien sind rigider und beengender geworden; die Medien sind konformistischer geworden, und praktizieren zunehmend Selbstzensur; die Kranken und Sterbenden blieben ungetröstet, und die Menschen fürchten sich immer mehr voreinander. All das verspricht nicht die sensible Abstimmung mit unserer Lebenswelt, die die ökologische Sackgasse, in die wir geraten sind, fordert.
Vielmehr legt all dies einen undurchdringlichen Narzissmus des Menschen frei, der gebannt ist von seinen eigenen Mythen und versiegelt in einer immer künstlicheren Wirklichkeit.
Agamben und Philosophie
Der ambitionierteste Versuch, die epochalen Implikationen der COVID-19-Pandemie darzulegen, den ich gesehen habe, ist ein kurzer Text von Giorgio Agamben unter dem Titel „Medizin und Religion“. In diesem Artikel argumentiert Agamben, dass die Pandemie der Wissenschaft in Gestalt der Medizin erlaubt habe, den gesamten Raum der Existenz zu besetzen, und alles andere menschliche Bestreben zu verdrängen. In der Moderne, so sagt er, hätten „drei große Glaubenssysteme“ wenn auch mühsam koexistiert: das Christentum, der Kapitalismus und die Wissenschaft; diese hätten im Laufe einer Geschichte von Konflikten, Überschneidungen und Verhandlungen „eine Art friedlich artikulierte Koexistenz“ erreicht. Doch jetzt hat die Biomedizin die Gelegenheit dazu gefunden, ihren „Kult“ sogar in Domänen zu tragen, in denen Kapitalismus und Christentum bislang eine Hegemonialstellung innehatten:
„Die kultische Praxis [der Medizin] war wie jede Liturgie episodisch und zeitlich begrenzt… Das unerwartete Phänomen, das wir jetzt erleben, ist, dass sie permanent und allumfassend geworden ist. Es ist nicht länger eine Frage, ein Medikament zu nehmen, sich falls notwendig einem Arztbesuch oder einer Operation zu unterziehen, sondern das gesamte Leben der Menschen muss ein Ort einer ununterbrochenen kultischen Feier werden. Der Feind, das Virus, ist omnipräsent und muss ohne Unterlass und ohne jegliche Möglichkeit eines Waffenstillstands bekämpft werden.“
Agamben verwendet den Begriff „Kult“ hier in dem Sinne, in dem ihn Theologen verwenden, um die frommen Praktiken jeder Religion zu beschreiben – die Mittel, durch welche eine Religion kult-iviert wird – und nicht in dem zeitgenössischen Sinne einer devianten Gruppe im Bann irgendeines charismatischen Oberhauptes. Der Kult der Medizin ist jetzt total, da er jede Geste, die wir ausführen sollen, vorschreiben und jede Praktik eines konkurrierenden Kultes verfemen kann.
Der als solcher im Text gewürdigte geistige Vater Agambens ist Walter Benjamin. In einem gnomischen Fragment mit dem Titel „Kapitalismus als Religion“, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde, spekuliert Benjamin über Kapitalismus als eine Art der Religion. Der Kapitalismus, so argumentiert er, verfügt über die gleiche fundamentale Struktur wie das Christentum, aber in einer verstellten und verschleierten Form. Infolge dieser Entstellung, wird die Struktur unzugänglich – der Anhänger des Kults weiß nicht länger, was er tut. Auf diese Weise wird der Kult total. Jeder Tag und deshalb eben kein Tag ist geheiligt. Sünde und ihre Vergebung sind ausgelöscht und hinterlassen nur eine endlose und unsühnbare Schuld. Das eschatologische Element des Christentums – die Vorstellung, dass uns ein Gericht am Ende der Zeit erwartet– wird aufgeschoben und verläuft sich in einer Krise, die niemals gelöst wird, in Wachstum, das nie genug ist und in Innovation, die ständig weiterer Innovation bedarf.
Agamben breitet das alles in seinem sehr kurzen Text nicht so detailliert aus; aber dadurch dass er der Bio-Medizin den Status eines Kults zuschreibt, der nun nach totaler Jurisdiktion strebt, glaube ich, dass er Benjamins Argument übernimmt. (Agamben war der italienische Herausgeber der gesammelten Werke Benjamins.) Es ist klar genug, glaube ich, dass, mindestens für die Dauer der Pandemie, die Gesundheitsautoritäten in der Position sind, Gesten vorzuschreiben; alle Gesten, die wir ausführen sollen – wohin wir gehen dürfen, wen wir sehen dürfen, wie weit weg wir von wem stehen dürfen, was wir tragen müssen etc. – und jene zu verbieten, die wir unterlassen sollen, einschließlich absoluter sozialer und kultureller Fundamente unserer Gesellschaft wie die Fürsorge für die Kranken und Sterbenden, künstlerische Darbietungen, religiöse Feiern und die Aufrechterhaltung von Familien- oder anderen gemeinschaftlichen Beziehungen. Ob dies nur temporäre Notstandsbevollmächtigungen sind, oder, wie Agamben eindeutig befürchtet, die Einführung eines permanenten Ausnahmezustands, in dem Gesundheitssicherung zu jedem Zeitpunkt vor allen anderen sozialen und kulturellen Pflichten Vorrang haben wird, bleibt abzuwarten. Überzeugend ist auch sein Argument, dass die Wissenschaft im Gewand der Biomedizin einem allumfassenden Kult vorsteht, dessen zentraler Gegenstand der Verehrung d a s Leben ist. Die Menschen erkennen dies nicht oder sehen es als selbstverständlich an, nur deshalb, weil die Rettung von „Leben“ so überzeugend konsekriert wurde, dass dies nicht länger geprüft oder diskutiert werden kann.
Was für mich in Agambens Argument besonders hervorsticht, ist seine Behauptung, dass wir Zeugen der Begründung einer neuen Religion und der Konsolidierung ihres Kults sind.
Diese Religion explizit als Wissenschaft oder Medizin beim Namen zu nennen kann schwierig werden, weil man dann nicht nur über die verschiedenen Praktiken dieser Gebiete spricht, sondern über die hauptsächlichen Mythen der neuen Religion. Die Institutionen der Wissenschaft und Medizin stellen diesem neuen Kult einen Teil seiner Priesterschaft zur Verfügung, doch sind die Priester nicht das, was die Religion konstituiert. Was eine Religion definiert ist, wie Émile Durkheim vor mehr als einem Jahrhundert argumentierte, die Markierung einer geheiligten Dimension, die nicht berührt oder untersucht, in die nicht eingegriffen werden darf. Das Heilige hat die Macht, Menschen verstummen zu lassen, sie in Staunen zu versetzen und, wenn notwendig, sie zu opfern. Diese Kraft wohnt nun den Halbgöttern Gesundheit, Sicherheit, Risikobewusstsein und – all dies in sich einschließend – d e m Leben inne. Solange ein gewisser Handlungsweg so ausschaut, als würden durch ihn Leben gerettet, ist es nicht wirklich notwendig zu fragen, was er sonst noch anrichtet.
Diese Idee, dass wir es mit einer Religion und nicht nur mit einer bestreitbaren wissenschaftlichen Sichtweise (obwohl sie bisweilen auch das ist) zu tun haben, hat zahlreiche Implikationen. Zum einen, dass diese Religion als solche entlarvt und kritisiert werden muss. Damit soll nicht gesagt werden, dass fragwürdige wissenschaftliche Behauptungen nicht als solche auf einer wissenschaftlichen Grundlage herausgefordert werden, sondern nur, dass wir erkennen müssen, dass Ideen, die auf eine religiöse Weise vertreten werden, gekleidet in ein wissenschaftliches Gewand, nicht wissenschaftlich diskutiert werden können, wie stichhaltig sie auch sein mögen. Zweitens muss klargestellt werden, dass diese neue Religion nicht vom Himmel gefallen, sondern dem Christentum entsprungen ist; jene Religion, von der so viele denken, sie hätten sich von ihr losgesagt, sie überwunden oder hinter sich gelassen. Benjamin stellt in dem Essay, das wir oben diskutiert haben, fest, dass der Kapitalismus als Religion ein Parasit des Christentums ist. Ivan Illich, mein Lehrer in dieser Sache, brachte das gleiche Argument mit Bezug auf die neue „Religiosität des Lebens“, wie er sie nannte, vor. Wir würden uns nicht vor diesem neuen Götzen verbeugen, so schrieb er, wenn Christen nicht zwei Jahrtausende lang „das Leben in Fülle“ gepredigt und gesucht hätten, das Jesus versprach, als er seiner Freundin Marta mit Vollmacht verkündete „Ich bin das Leben“.
Auch Agamben teilt diese Sicht und behauptet in seinem Essay, dass „[d]ie medizinische Religion ihre eschatologische Dringlichkeit ohne jede Hemmung vom Christentum übernommen hat, während das Christentum sie links liegen lassen hatte.“ (Der Begriff der „eschatologischen Dringlichkeit“ bezieht sich hier auf den quasi-apokalyptischen, Armageddon-artigen Charakter unserer Mobilmachung gegen das Virus.) Zwei Gedanken folgen daraus: zunächst der, dass wir nie religiöser sind, als wenn wir denken, wir hätten die Religion überwunden und schließlich jener, dass unsere Zukunft, ganz unbewusst, entschieden wird durch eine verleugnete und missachtete Vergangenheit.
Agambens Sorge, die er seit Beginn der Pandemie mutig zum Ausdruck gebracht hat , ist die, dass die Regel eines religiös-sanktionierten Gesundheits-Polizeistaats „alles beherrschend“, „normativ obligatorisch“ und zutiefst zersetzend für jede Gestalt des Lebens ist, die auf einem konkurrierenden Boden steht – Trauerfeiern sind ein offensichtliches Beispiel solcher Gestalten des Lebens, und das Verbot solcher Riten, zusammen mit dem Allein-lassen der Sterbenden, war eines der ersten Elemente des Pandemie-Regimes, von denen Agamben schockiert und alarmiert war.
Was als Antwort darauf gefordert werden muss, so Agamben, ist, dass „die Philosophen wieder in Konflikt mit der Religion treten“ – etwas, das im Laufe der Geschichte „viele Male geschehen ist“. Ich glaube, dass dem so ist und ich glaube überdies, dass Agamben unter Philosophie keine professionelle Disziplin versteht, die nur Eingeweihten offensteht, sondern die pure Praxis unserer Freiheit, soweit diese Praxis von uns verlangt zu verstehen, wie wir zu unseren Ideen kommen, den Gründen, durch die wir uns leiten lassen und andere ähnlich elementare Dinge. Was Agamben als „Konflikt mit der Religion“ bezeichnet kann auch als ein Aufruf zur Freiheit der Religion verstanden werden (da es durchaus möglich ist, zu behaupten, niemand könne vermeiden, religiös zu sein und es sei daher das Beste, danach zu streben, dieser Religion in Freiheit zu folgen oder sie sich vom Leibe zu halten). Vor langer Zeit, im Jahr 1971, behauptete Ivan Illich in der Entschulung der Gesellschaft, dass die verpflichtende Beschulung, sowohl durch ihre rituelle Struktur als auch durch ihre spirituelle Ambition eine Kirche darstelle und als solche abgeschafft werden solle.
Wäre die Medizin zu dem Zeitpunkt verpflichtend gewesen, hätte er zweifellos in der Nemesis der Medizin (1975), in der medizinische Einrichtungen auf der gleichen Grundlage kritisiert werden, die er in seinem Buch über die verpflichtende Beschulung analysiert hatte, die gleiche Behauptung aufgestellt. Agambens Argument ist, dass die Medizin sich nun ebenfalls „normativ obligatorisch“ gemacht habe und dass diese Macht nicht notwendig mit dem Ende der Pandemie verschwinden würde. Im Jahr 1791 verabschiedeten die Vereinigten Staaten von Amerika den ersten Zusatzartikel ihrer neuen Verfassung, durch den jedes Gesetz, „das eine Einrichtung einer Religion zum Gegenstand hat oder deren freie Ausübung beschränkt“ verboten wurde. Sektion 2 der kanadischen Charter of Rights garantiert Kanadiern die gleiche Freiheit. Bislang wurden diese Freiheiten so verstanden, dass sie sich nur auf offensichtliche, explizite und formal gegründete Religionen beziehen. Wenn Illich und Agamben Recht haben, stellen die wahrhaftig mächtigen Kirchen – jene, die uns nicht nur sagen, wie wir leben sollen, sondern wie wir leben müssen – ihren Anspruch an uns im Namen der Bildung, der Gesundheit, der Sicherheit, der Risikoreduzierung und anderer Schlagwörter der neuen Religion. Daraus folgt, dass wir nun das brauchen, was Illichs enger Freund, der amerikanische Kritiker Paul Goodman eine „neue Reformation“ nannte. Die Freiheiten, für welche die erste Reformation einst kämpfte, müssen neu erkämpft werden.
Bemerkung: Wo der Autor zitiert, hat der Übersetzer sich erlaubt, diese Zitate ins Deutsche zu übertragen.
 https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-coron…
 https://www.spectator.co.uk/article/lives-vs-lives-the-global-cost-of-l…
 https://www.balancedresponse.ca/
 https://gbdeclaration.org/
 https://lockdownsceptics.org/what-sage-got-wrong/
 Ebd.
https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf?utm_medium=…
 Jutta Mason hat ein Kompendium von Links zu diesen verschiedenen offenen Briefen auf der Website ihres Centre for Local Research into Public Space (CELOS) erstellt, die die pro- wie die contra-Seite abbilden. Sowohl die Briefe der belgischen als auch der Ärzte aus Ontario sind unter dem folgenden Link zu finden: https://www.celos.ca/wiki/wiki.php?n=BackgroundResearch.Covid19Quaranti…
 Andrew Coyne, „Die Aussage, die Herdenimmunität sei eine großartige Strategie, bedeutet zu sagen, es mache einem nichts aus, Millionen Menschen Sterben zu lassen“, The Globe and Mail, 27.10.2020, D2
 Ich bemerkte dies während eines Auftritts mit zwei Kollegen bei Unherd: https://unherd.com/2020/10/covid-experts-there-is-another-way/
 https://medium.com/medical-myths-and -models/the-human-genom-is-full-of-viruses-c18ba52ac195
 „la plus grande crise de santé publique de son histoire” – Statement vor der Residenz des Premierministers am 25.03.2020 – https://www.youtube.com/watch?v=NzRw-AleNuY
 Ray Oldenburg, The Great Good Place: Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and Other Hangouts at the Heart of Community, Marlowe and Company, 1989
 Uwe Pörksen, Plastikwörter: Die Sprache einer internationalen Diktatur, (eng.) Penn State Press, 1995; Ivan Illich und Barry Sanders, ABC: The Alphabetization of the Western Mind, Vintage, 1988, S. 106-107
 Roland Barthes, Mythologies, Paladin, 1972
 Bruno Latour, Science in Action, Harvard, 1987
 Steven Shapin, Simon Schaffer, Leviathan and the Air Pump: Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton, 2011, S. 13
 Making Things Public: Atmospheres of Democracy, hrsg. Bruno Latour, Peter Weibel, MIT, 2005
 Die Sendungen sind hier zu finden: http://www.cbc.ca/radio/ideas/how-to-think-about-science-part-1-24-1.29…, siehe auch: Ideen über die Natur der Wissenschaften, hrsg. David Cayley, Goose Lane, 2009
 Zain Chagla, Sumon Chakrabarti, Isaac Bogoch, Dominik Mertz, “Gesunde Diskussionen: Meinungsverschiedenheiten werden in der Antwort auf die Pandemie benötigt“, The National Post, 06.11.2020, A13
 Sokrates spricht von der „edlen Lüge“ in der Republik, Buch III, 414b
 Sunetra Gupta, „A Contagion of Hatred and Hysteria”, https://www.aier.org/article/a-contagion-of-hatred-and-hysteria/
 https://www.aier.org/about
 André Picard, „Don’t be complacent about COVID-19”, The Globe and Mail, 29.09.2020, A13
 “Forget Politics. It’s time to fight COVID-19”, The Globe and Mail, 21.09.2020, A12
 André Picard, „Fasten your seat belts”, The Globe and Mail, 09.11.2020, A7
 https://https//ocla.ca/wp-content/uploads/2020/04/Rancourt-Masks-dont-w…
 Carl Heneghan und Tom Jefferson, “Do Face Masks Work?” The Spectator, 19.11.2020
 Leopold Kohr, The Breakdown of Nations, London: Routledge and Kegan Paul, 1957, ix
 Illich traf Kohr in Puerto Rico in 1950er Jahren und sie blieben Freunde. Illich schrieb die Einführung zu Kohrs Buch, The Inner City (Talybont: Y Lolfa, 1989) und hielt anlässlich von Kohrs 80. Geburtstag die Laudatio. Er spricht von seiner Freundschaft zu Kohr in David Cayley, Illich in Conversation, House of Anansi, 1992, S. 82-84
 Siehe D’arcy Thompson, On Growth and Form, Cambridge: Cambridge University Press, 1971 (Erstausgabe 1917) und J. B. S. Haldane, On Being the Right Size, in James R. Newman, The World of Mathematics, Vol. 2, New York: Simon and Shuster, 1956 (Erstveröffentlichung 1928)
 https://www.cbc.ca/news/canada/toronto/sex-covid-19-councillor-calling-…
 Siehe Fußnote 13 oben.
 Lukas 5:37
 Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. Michael Oakeshott, Collier Macmillian, 1962, S. 132
 https://www.centerforhealthsecurity.org/event201/about
 https://plandemicseries.com/
 https://www.centerforhealthsecurity.org/our-work/events-archive/2005_at…
 https://vaxxedthemovie.com/
 Das Dokument findet sich noch immer unter dem folgenden Link und ist noch immer unter dem großen Stempel „RETRACTED“ (zurückgezogen) lesbar: https//www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140673697110960/fulltext
 Republik, Buch V, 273 c-e
 Matthäus 5:5
 Siehe Fußnote 12.
 https://canada.autonews.com/coronavirus/canadian-suppliers-team-help-pr…
 https://www.newswire.ca/news-releases/vexos-to-manufacture-and-deliver-…
 Siehe beispielsweise: Dr. Matt Strauss, „The Underground Doctors“ – Bewegung, die die Wirksamkeit von Beatmungsgeräten in Frage stellt“, The Spectator, May 2,2020
 The Spectator, 06.10.2020
 Noam Chomsky und Edward S. Herman, The Political Economy of Human Rights, Bd. I: The Washington Connection and Third World Fascism, Black Rose Books, 1979, S.71
 „We are the masters of our pandemic fate”, The Globe and Mail, 03.11.2020, A10
 „Covid-zero“ ist der Slogan unter dem der Infektiologe Dr. Andrew Morris und einige Kollegen für ihren Vorschlag für eine „aggressive nationale Strategie“ der Pandemiebekämpfung in Kanada werben: https://www.cbc.ca/radio/asithappens/as-it-happens-monday-edition-1.580…
 Kelly Grant, „How an Australian State beat back its second wave”, The Globe and Mail, 14.11.2020, A14
 André Picard, „Don’t be complacent about COVID-19”, The Globe and Mail, 29.09.2020, A11
 E.P. Thompson, „The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century”, Past and Present, Nr.50, Februar 1971 – wieder gedruckt in E.P. Thompson, Customs in Common: Studies in Traditional Popular Culture, New Press, 1993; James C. Scott, Seeing Like a State, Yale, 1999; Christopher Lasch, The Revolt of the Elites, WW Norton, 1995; und Ivan Illich; Schattenarbeit, Marion Boyars, 1981
 https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/mar/25/covid-19-is-natur…
 Bill McKibben, „The End of the World as We Know It”, TLS, 31.07.2020
 https://www.aier.org/article/an-education-in-viruses-and-public-health-…
 https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpubh.2020.604339/full#SM6
 https://lockdownsceptics.org/what-sage-got-wrong/
 Managing Planet Earth: Readings from Scientific American Magazine, W. H. Freeman and Co., 1990
 Leitartikel, The Globe and Mail, 12.05.2020
 https://itself.blog/2020/05/02/giorgio-agamben-medicine-as-religion/
 Siehe auch: Giorgio Agamben, „Capitalism as Religion”, in Agamben and Radical Politics, hrsg. Daniel McLoughlin, University of Edinburgh Press, 2016
 Émile Durkheim, The Elementary Forms of Religious Life, The Free Press, 1995 (Erstveröffentlichung 1912)
 Ivan Illich, „The Institutional Construction of a New Fetish: Human Life”, in In the Mirror of the Past, Marion Boyars, 1992; „das Leben in Fülle” – Johannes 10:10; „Ich bin das Leben” – Johannes 11:25
 Im Jahr 1970, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Goodman New Reformation: Notes of a Neolithic Conservative (PM Press, 2010)