Marianne Gronemeyer
Marianne Gronemeyer

Dokumentation

Marianne Gronemeyer

Alarmbereitschaft - Krise als Dauerzustand

Gewöhnung an ein Unding

»Den Menschen, der seine Lust im Gebrauch des konvivialen Werkzeugs findet, den nenne ich nüchtern und zurückhaltend. Er kennt das, was im Spanischen la conviviencia heißt, er nimmt Anteil am Mitmenschen.« Nüchternheit ist »eine Tugend, welche nicht jeglichen Genuß ausschließt, sondern nur den, der die persönliche Beziehung verdrängt oder verdirbt.« So steht es in der Einleitung zu der 1975 in Deutschland erstmals erschienenen Ausgabe von ›Selbstbegrenzung‹.

Wir haben Euch zu einer Zusammenkunft herbeigerufen, in der Hoffnung, dass diese Tugend der Nüchternheit, die die persönlichen Beziehungen erblühen läßt, hier einkehrt, obwohl unsere Einladung bei genauerer Betrachtung nicht sehr einladend ist. Wir haben Euch konfrontiert mit einer Kaskade von Wörtern, die allesamt das Zeug haben, uns das Fürchten zu lehren – jedes für sich allein , aber erst recht und mit geballter Wucht in ihrem Zusammenwirken. Kaum auszumachen, welches von ihnen am meisten beunruhigt und besorgt. Am aufdringlichsten verschafft sich vielleicht der ›Alarm‹ Gehör. Er signalisiert unmittelbar drohende Gefahr, ruft nicht nur zu erhöhter Wachsamkeit auf, sondern dazu, alles stehen und liegen zu lassen, unverzüglich zu handeln oder zu fliehen, je nachdem, ob man über Mittel verfügt, der Gefahr zu begegnen oder vor ihr zurückweichen muß. ›Alarm‹, weckt in mir unwiderstehlich Erinnerungen an das Heulen von Sirenen, die den nächsten Luftangriff auf Hamburg ankündigten. Und noch heute kann ich den samstäglichen 12-Uhr-Probealarm nicht hören, ohne dass dieser Schrecken wiederkehrt. Im ›Etymologischen Wörterbuch des Deutschen‹ lese ich: »Alarm m. ‚Warnsignal bei Gefahr, Zustand der Gefahr, Beunruhigung, Bereitschaft«.1 ›Alarm‹ abgeleitet sei der ›Lärm‹, während der Alarm selbst sich aus dem ›all’ arme‹, ›Zu den Waffen!‹, dem Weck- und Waffenruf der Soldaten, herleite.

Da kommt viel – auch Widersprüchliches – zusammen an Bedeutungen und Assoziationen: Flucht und Angriff, Gefahr, Sorge und Beunruhigung, Schrecken und Kopflosigkeit, Wachheit und Auf- dem-Sprung-Sein, Nervenanspannung und angehaltener Atem; vor allem aber knappe Zeit. Keine Zeit also für Besonnenheit, Gelassenheit und kluges Abwägen. Nun lautet unser Thema ja aber ›Alarm‹, sondern ›Alarmbereitschaft‹, und die ist zweideutig. Es kann damit gemeint sein, man müsse auf einen Alarm jederzeit gefasst sein, weil die Umstände des Daseins schwankend, instabil, jedenfalls nicht mehr vertrauenswürdig sind und jederzeit aus den Fugen geraten können. Das ist die Alarmiertheit vor dem Alarm. Oder es ist die Bereitschaft gemeint, dem Alarmsignal, sobald es schrillt, auf Anhieb höchste Wichtigkeit beizumessen, alle sonstigen Prioritäten hintanzustellen und den Sirenen, ohne noch zu wissen warum, blind zu folgen, ohne noch zu wissen wohin. Sowohl die eine als auch die andere Art der Bereitschaft schafft eine im Wortsinn unhaltbare Lage, eine die keine beliebige zeitliche Dehnung duldet. Alarmiert kann ich nur kurzfristig sein, danach muss ich mich entweder beruhigen; oder abwarten; oder etwas unternehmen oder die angekündigte Katastrophe ihren Lauf nehmen lassen und in durcheinander gewirbelten Verhältnissen zurückkehren zu einer wie immer notdürftigen Alltäglichkeit. Alarm soll das Schlimmste verhüten: ›Rette sich, wer kann!‹ Er ist nicht die Katastrophe, sondern das Präludium der Katastrophe, die dann entweder eintritt oder mit vereinten Kräften verhindert werden kann oder eben doch nicht eintritt, wodurch der Alarm zum ›falschen Alarm‹ wird. Wer Alarm auslösen kann, verfügt über enorme Macht. Mit dem Alarm kann Schindluder getrieben werden. Menschen werden in Angst und Schrecken versetzt und so für Rettungsangebote jedweder Art gefügig gemacht. ›Alarm‹ noch dazu mit Ausrufungszeichen, ist vielleicht das grellste Wort unseres Themas, aber das tonangebende ist ›Krise‹. Ich möchte darauf wetten, dass niemand hier im Raum, gefragt was das sei, die Krise, eine überzeugende Antwort zu geben wüßte. Die Krise ist ein Un-Ding, will sagen: sie ist nicht ding-fest zu machen. Sie kann einem den Kopf verdrehen, aber erfahren kann man sie, so wie die Dinge heute liegen, nicht.

In seinen frühen Schriften, so zum Beispiel in ›Selbstbegrenzung‹, in ;Entmündigung durch Experten’ und in ›Schöpferische Arbeitslosigkeit‹, hat Ivan Illich die Krise beschworen. Später findet sie sich expressis verbis so gut wie nicht mehr in seinen Texten. Mir kommt vor, das liegt daran, dass er aufgehört hat, an sie zu glauben. An die Krise ‚glauben’? Das scheint eine mißratene Formulierung. So als sei von der Krise etwas zu erhoffen. Und genau das ist der Tenor, in dem Illich von der ‚Krise’ in den Texten der siebziger Jahre – wenn auch mit aller gebotenen Skepsis – spricht: »Es wäre vermessen, vorhersagen zu wollen, ob man sich an diese Epoche ... mit einem Lächeln oder mit einem Fluch erinnern wird. Was mich angeht, so hoffe ich natürlich, daß man sich daran erinnern wird wie an eine Nacht, in der Papa das Vermögen der Familie versoff und damit seine Kinder zwang, neu anzufangen.«2 Illich versteht die Krise im herkömmlichen, von den Griechen gestifteten, Sinn, als Wendepunkt eines unhaltbar gewordenen Zustands, als jenen Punkt, an dem weniger etwas entschieden werden muss, als dass sich etwas entscheidet. Die Krise ist im Verlauf einer schweren Erkrankung die zugespitzte Situation, in der die Krankheit sich zu Tod oder Leben wandelt, in der der Organismus ihr erliegt oder sich erneuert, liegenbleibt oder aufersteht. Und es mag ja sehr wohl sein, dass bei dieser Entscheidung die Hoffnung eine wirkmächtige Kraft ist, wenn auch keine, auf die zu rechnen oder mit zu rechten wäre.

Natürlich wissen wir alle noch um diesen zwiespältigen Sinn der Krise, dass sie Tod oder Leben ausbrüten kann; und wir hätten uns seiner in Beantwortung der von mir vorgeschlagenen Frage sicher auch bedient. Aber damit hätten wir uns aus der Affäre gezogen, denn dieses theoretische Wissen über das Wesen der Krise ist blutleer. ›Krise‹, so wie sie heute in aller Munde ist, hat ihre widersprüchliche Zweideutigkeit eingebüßt. Sie ist nichts, wovon etwas zu erhoffen wäre, sie muss vielmehr mit allen verfügbaren Mitteln unschädlich gemacht werden. Sie ist – überhaupt – nicht gegenwärtig im Sinne einer zeitlichen und räumlichen Anwesenheit, sondern hintergründig und dauernd. Etwas zugespitzt könnte ich sagen: Die Krise gibt es nicht, es gibt nur das Krisengerücht und das Krisengeschrei. Das ist jedoch kein Grund, fröhlich zu sein. Was es statt der Krise gibt, ist die schleichend sich vollziehende Katastrophe, der die Kraft, zur Krise zu werden, systematisch ausgetrieben wird. Während wir also einerseits zu Recht nicht mehr an die Krise glauben können, werden wir andererseits tagtäglich in Versuchung geführt, dem Krisengeschrei zu glauben. Glaube und Glaube ist eben zweierlei, je nachdem er sich mit Liebe oder Hoffnung paart oder den Einflüsterungen des Verführers auf den Leim geht. Bevor ich der Frage nachgehe, welche machtvollen Interessen sich hinter dem Krisengeschrei verbergen, will ich versuchen, aus den einschlägigen Texten ein wenig genauer herauszuhören, was Ivan Illich unter ›Krise‹ verstand und was er von ihr erhoffte und befürchtete. Im Lichte dieses in den siebziger Jahren noch möglichen Krisenverständnisses, können wir dann vielleicht ermessen, welchen Grad an Elaboriertheit das Krisengeschrei angenommen hat, so dass heute ganz anstandslos das Un-Ding der Dauerkrise für real existierend genommen wird, so sehr, dass wir uns daran ›gewöhnt‹ haben; also bereit sind zu glauben, die uns angedrehten ›Krisen‹ hätten tatsächlich Hand und Fuß, das Un-ding, sei also ein Ding.

»Die Symptome einer planetarischen Krise, die sich noch beschleunigen wird«, schreibt Illich 1975, »liegen zutage. Überall fragt man nach dem Warum. Ich für mein Teil schlage folgende Erklärung vor: Die Krise entspringt einem gescheiterten Unternehmen, sie entspricht dem Versuch, den Menschen durch den Robot zu ersetzen. Der Traum, den Menschen durch die Macht der Bürokratie und die Kraft des Motors zu befreien, hat die Unterjochung der Produzenten und die Süchtigkeit der Konsumenten bewirkt. Das Werkzeug hat sich vom Menschen gelöst und hat den Menschen in die Hand bekommen. Wir haben versucht, die Maschine für den Menschen arbeiten zu lassen, und den Menschen zum Dienst an der Maschine zu erziehen. Der Versuch ist gescheitert. Die Hypothese der weltweiten Experimente war, den Sklaven durch den Motor zu ersetzen. Nun ist offenbar, daß das zu diesem Zweck eingesetzte Werkzeug, den Menschen zu seinem Sklaven macht.«3 Das Vorhaben des Menschenersatzes ist also der Kern der Krise. Präziser und aktueller kann man die Krise der Gegenwart kaum zur Sprache bringen. Aus heutiger Sicht verblüffend ist nur mit welcher Entschiedenheit Illich in den siebziger Jahren den Zeitpunkt des Zusammenbruchs dieses hybriden Projektes gekommen sah. Die Zeichen, dass es auf diesem Kurs nicht weitergehen könne, schienen ihm unwiderleglich, und er behauptete, die Krise könne ausgelöst werden durch die Einsicht in das komplette Versagen dieses Unternehmens, mit der möglichen Konsequenz einer »radikalen Umstülpung« der Beziehung des Menschen zum Werkzeug, durch welche dann dem Menschen angemessene Werkzeuge geschaffen würden. »Dieses Werkzeug« (also jenes nach der Umstülpung), müsse »drei Forderungen (erfüllen). Es schafft Leistung, ohne die persönliche Autonomie zu zerstören, es bringt weder Sklaven noch Herren hervor, und es erweitert den persönlichen Aktionsradius.« Und dann folgt der Satz, der mir in »Selbstbegrenzung« der wichtigste ist: Der Mensch braucht ein Werkzeug, um damit zu arbeiten, nicht einen Apparat, der an seiner Statt ›arbeitet‹.

Aber Illich hat sich nicht über die Doppelnatur der Krise hinweggemogelt und nur den guten Ausgang in Betracht gezogen. Dass die Zuspitzung einer nicht länger tragbaren Lage eine Entscheidung über Tod oder Leben ist, hat er keinen Augenblick aus den Augen verloren. So sehr der Grundton dieser frühen Streitschrift ein hoffnungsvoller ist, Illich sich also von der prognostizierten Krise die Überwindung des in jeder Hinsicht nicht nur kontraproduktiven, sondern zerstörerischen Industriesystems erhoffte, so sehr war er sich dennoch bewusst, dass siezwei andere, ebenso mögliche Ausgänge hatte:

  • dass nämlich die in den Verhältnissen angestaute Unhaltbarkeit explodieren und in einem auf unabsehbare Zeit unheilbaren Zusammensturz, der nicht zu überleben wäre, enden könnte. Über diese Möglichkeit hat Ivan nicht gesprochen, weil sie unsere Vorstellungskraft übersteigt, weil er sich an sensationslüsterner Katastrophilie nicht beteiligen wollte (Freimut Duve: »Apokalypsegeilheit«) und weil man nur schweigen kann, wenn die Sprache und das Vorstellungsvermögen versagen. Und das hat er dann auch getan als Teilnehmer der Schweigegruppen der frühen achtziger Jahre mit ihrem ›Nein ohne jedes Ja, zu Massenvernichtungswaffen‹. Gegenüber dieser seinsgefährdenden Möglichkeit scheint nur eine Haltung geboten, nämlich alle Kräfte daran zu setzen, die Krise, ihre weitere Zuspitzung, ihren explosiven Siedepunkt, hinauszuzögern, ihren Fortgang wenigstens, wenn auch nicht zu hindern, so doch aufzuhalten, Zeit zu gewinnen. Günter Anders spricht in diesem Zusammenhang von einer nur mehr verbleibenden Frist, die das Denken in aufeinanderfolgenden Epochen unwiderruflich abgelöst hat. Genau dieser verzweifelte Widerspruch zwischen dem Aufhalten- Müssen und dem Forcieren der Krise kennzeichnet unsere Situation, und genau er ist das Terrain der expertokratischen Verwaltung der Krise, so dass die uns verordnete Dauerkrise wie eine Aufhaltung der Krise erscheint.
  • Der andere zu gewärtigende Umgang mit der Krise ist, »daß die Technokraten beauftragt werden, die Herde an den Rand des Abgrunds zu führen. Das heißt, ihnen wäre dannaufgetragen, multidimensionale Grenzen des Wachstums gerade noch unterhalb der Schwelle der Selbstzerstörung festzulegen. Eine solche selbstmörderische Phantasie würde das industrielle System auf dem höchsten noch erträglichen Produktivitätsgrad erhalten: aber kaum den Menschen. Der Mensch würde beschützt in einer Plastikhülle leben, die ihn zwänge wie ein zum Tode Verurteilter vor der Hinrichtung zu überleben.« »Die Toleranzschwelle des Menschen gegenüber Programmierung und Manipulation würde bald zum schwerwiegenden Hindernis des Wachstums werden ... man würde danach trachten«,4 »einen monströsen Mutanten herzustellen, der fit genug wäre, es in diesen real gewordenen Vernunftträumen auszuhalten und in ihnen dienstbar zu sein ... ein psychogenetischer Abklatsch des Menschen, als Bedingung für weiteres Wachstum.«5

Aber selbst angesichts dieser ihn entsetzenden Möglichkeit besteht Illich 1975 darauf: „Die Einführung eines solchen technobürokratischen Faschismus ist nicht unausweichlich.“6 Diese Zuversicht hat ihn später verlassen, als er erkennen musste, dass genau dieser monströse Weg in den industriellen Gesellschaften zur Rettung des Weiter-So beschritten wurde; gegen alle Einsicht in die offenbare Kontraproduktivität und Destruktivität weiteren industriellen Wachstums. Es ist gelungen, den Menschen ein teuflisches Paradox aufzuzwingen. Alle wissen heute, dass es so nicht weitergehen kann, dass die Schule den Vergleich mit der Hölle nicht zu scheuen braucht, dass sie tausendfältiges Leid und tausendfältige Blockaden für schöpferische Fähigkeiten auf dem Gewissen hat; alle wissen dass das sogenannte Gesundheitswesen ein Schreckensort ist, dass der Verkehr uns zu ersticken droht und zum rasenden Stillstand verurteilt. Und alle die, die das wissen, aus eigener Erfahrung wissen, rufen dennoch nach mehr vom Gleichen und eben nicht nach dem ganz Anderen.7 Der Tanz ums goldene Kalb geht weiter, obwohl seine Wirkungs- und Heillosigkeit offen zutage liegt. Um diesen Widersinn wenigstens ahnungsweise begreifen zu können, müssten wir dem Un-Ding, der Phantasmagorie, der ‚Krise als Dauerzustand’ auf die Spur kommen. Und da zeigt sich dann, dass das bedrohlichste Wort in unserem Tagungsthema, dasjenige auf dem das ganze Gewicht des Verhängnisses lastet, das Wort ‚Dauer’ ist. Diejenigen, die die Schnelllebigkeit und die rasende Beschleunigung, der wir ausgeliefert sind, als Überstürzung, als veloziferisch wahrnehmen, mag ›Dauer‹ ein wohlklingendes, Beruhigung verheißendes Wort sein, ein Garant dafür, dass alles Ding seine Zeit hat (Prediger 3, 1-12) und auch gewährt bekommt. Aus der Perspektive der Danteschen Hölle aber bedeutet das Nicht-enden-Wollende, die Fortsetzung in alle Ewigkeit, unbeschreibliches Grauen. Aus unserer Perspektive heute meint es die zügellose Fortsetzung des Projekts des Menschenersatzes bis hin zur Verfertigung des Ersatzmenschen.

Wir müssen uns also fragen, warum diesem wüsten Projekt von denen, die als sein Rohmaterial verschlissen werden, nicht durch ein ‚Nein ohne jedes Ja’ ein Ende gesetzt wird. Warum sie nicht eine Krise auslösen, die diesen Namen verdient, und sich besinnen auf Weisen der Daseinsmächtigkeit, die ihr eigenes Da-Sein-Können nicht untergraben. Wie konnte der Ausbruch der Krise, die Illich nahe herbeigekommen sah, so gezähmt und umgebogen werden, dass ihr Eigenleben erstickte. Es sind mächtige Monopole, die sich in diesem Projekt zusammengeschlossen haben zu einem weltumspannenden Gesamtmonopol und darüber wachen, dass eine „Monokultur des Denkens“8 sich ausbreitet: Es sind jene treibenden Kräfte, die den Fortschritt garantieren: die Naturwissenschaft, die Ökonomie, die Technik und die Bürokratie, die modernen apokalyptischen Reiter.

Ihre zerstörerischen Kräfte entfalten sie dadurch, dass sie in ihrem jeweiligen Geltungsbereich eine Monopolstellung behaupten. Die Naturwissenschaft beansprucht das Monopol der Weltdeutung, die Ökonomie das der Weltverteilung, die Technik, das der Weltgestaltung und schließlich die Bürokratie das Monopol, die Welt zu regeln. Zusammengeschlossen und miteinander vernetzt bilden sie eine Supermacht, die ihren Anspruch auf Weltherrschaft weitgehend durchgesetzt hat. Sie tendiert dazu, sich alles anzuverwandeln und alles in sich einzuschließen. Sie duldet keine anderen Götter neben sich. »Du sollst mit mir eines Sinnes sein und meiner Evidenz trauen«, sagt die Naturwissenschaft. »Du sollst Deinen Nächsten besiegen wollen«, sagt die Ökonomie. »Du sollst die Maschinen statt deiner arbeiten lassen, lass dich bedienen und versorgen«, sagt die Technik. »Das kostet natürlich eine Kleinigkeit«, wirft die Ökonomie ein. »Vor allem sollst du nicht stören«, sagt die Bürokratie. Die Zerstörungskraft/ -gewalt, die von diesen zum System zusammengeschlossenen Monopolen akkumuliert wurde, ist so unvorstellbar groß und nichtend, dass jedes Mittel recht ist, um ihre Entfesselung Tag für Tag niederzuhalten. Da aber die apokalyptischen Vier eine Monokultur des Denkens verordnet und installiert haben, ist eben nicht jedes Mittel recht, um einen Aufschub zu erreichen, sondern nur das eine: Die Fortsetzung des Gleichen, mit immer raffinierteren Mitteln. Die Propaganda läuft auf ›Alternativlosigkeit‹ hinaus: »Wir haben keine Wahl«; eine Bankrotterklärung des Politischen. Die ›Krise‹, die ich jetzt in Anführungsstriche setze, wird bekämpft mit eben den Mitteln, die sie heraufbeschworen haben, und von eben dem System, das sich nur durch sie erhalten und seinen Geltungsanspruch behaupten kann: Innerhalb dieses Krisenmanagements sind dann allerdings viele Mittel recht, um die Krise schwelen zu lassen, ohne sie zu entfachen, um die Krisenangst gleichzeitig zu schüren und zu beschwichtigen.

Zum Beispiel dadurch, dass das Besorgniserregende nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft angesiedelt wird. »Man kennt (es) noch nicht oder noch nicht ganz. Daher muss man (wissenschaftliche)... Experten sowie Rechen- und Prognosezentren zu Hilfe rufen, um heute diesen (heraufziehenden) Wandel zu begreifen, der sich sowieso aber erst später durchsetzt. Und man muss ihn wollen. Denn die Kräfte, die ihn antreiben sind unerbittlich, man kann nicht anders handeln, und als ›Verantwortliche‹ ‚ müssen wir versuchen, sie zu nutzen«, schreibt der französische Soziologe Luc Boltanski.9 In vorauseilendem Gehorsam sollen wir uns an das unabänderlich Kommende anpassen und diese Anpassung als unsere Freiheit begrüßen und als unsere Verantwortlichkeit ernst nehmen. Das ist, so Boltanski, die Logik der Vorhölle. Sie sei »eine Art großer Wartesaal – freilich ohne jede Aussicht, diesen Wartesaal jemals verlassen zukönnen.«10 »Gibt es«, fragt er, »einen Begriff, der besser geeignet wäre, um, mindestens in metaphorischer Sprechweise, unsere geschichtliche Lage zu kennzeichnen ... als eben den Begriff der Vorhölle«, in der sich, obwohl sie »nicht unkomfortabel« ist, »eine unübersehbare Tristesse« ausbreitet.11

Eine andere Strategie, um den Erregungszustand der Alarmiertheit immer neu zu nähren undum die Anpassungsbereitschaft an immer mehr präventive Sicherheitsmassnahmen und - verordnungen aufrechtzuerhalten, ist, die Krise in Teilkrisen so aufzuspalten, dass sie nicht als ursprungsgleich erkennbar sind. Sie erscheinen dann als unabhängige Krisenherde im System und ziehen die Aufmerksamkeit von der Krise des Systems ab. Ihre fallweise Bekämpfung erfordert immer weiteres industrielles Wachstum und legitimiert immer weitere Freiheitsbeschränkungen, benötigt immer mehr bürokratisches Management und bedarf immer exklusiveren Expertenwissens. So werden wir auf die Ideologie des ›Nichtanderskönnens‹ und auf die ›Krise als Dauerzustand‹ eingeschworen. Ihr zu erliegen, ist ebenso fatal, wie der leichtfertige Glaube, wir könnten im System unter der Herrschaft der mächtigen Vier durch allerlei Korrekturen, dies und das betreffend, wir könnten durch die fieberhafte Suche nach alternativen Projekten, Modellen und Institutionen zur Weltrettung eine Wende zum Besseren hinkriegen. Aber ohne den Glauben an das ›Auchanderskönnen‹ (Rudolf Schottländer) kann die Katastrophe eben auch nicht zur Krise gewandelt werden: »Katastrophen lassen sich nur dann in eine ›Krise‹ kanalisieren, wenn die Menschen neue Ziele und Perspektiven zu erkennen vermögen. Die Krise des Industriesystems läßt sich nur dann kanalisieren, wenn die Menschen die Realisierbarkeit autonomer und konvivialer Produktionsformen erkennen.« Dem ›Auchanderskönnen‹ eine Stimme gegeben zu haben, darin besteht die Aktualität Ivan Illichs, auch nachdem er sich von den allzu hoffnungsvollen Tönen der siebziger Jahre distanziert hat. Es zeigt sich angesichts der angetretenen Weltherrschaft der apokalyptischen Vier, dass die Bewegungsrichtung des Widerstands sich radikal ändern muss. Nicht im System können wir in Varianten dessen, was heute gilt, das Auchanderskönnen aufscheinen lassen, sondern nur außerhalb seiner. Die Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen, die bis zur Unkenntlichkeit verschliffen ist, wird zur Existenzfrage. Nur als Systemflüchtlinge oder genauer noch: als Systemdeserteure haben wir eine Chance, des Auchanderskönnens ansichtig zu werden.

Noch einmal Ivan Illich in 1977.

›Krise‹ meint heute den Moment, in dem Doktoren, Diplomaten, Bankiers und allerlei Sozialingenieure übernehmen, in dem Freiheiten suspendiert werden. ... Krise, der griechische Ausdruck für Entscheidung, Wendepunkt meint heute in allen modernen Sprachen: Gib Gas! ›Krise‹ beschwört die Vorstellung von einem bedenklichen, aber steuerbaren Unheil herauf, gegen das mit Geld, Manpower und Management vorgegangen werden muß. ... Aber der Begriff Krise kann auch etwas ganz anderes bedeuten, nicht die kopflose Eskalation des Managements. Sie kann den Augenblick einer Wahl bedeuten, den wunderbaren Moment, wenn Menschen plötzlich ihrer selbstauferlegten Gefangenschaft gewahr werden und ein anderes Leben für möglich halten.«12

  • 1. Etymologisches Wörterbuch der Deutschen, vom Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin (hrsg.), 2. Auflage, Berlin 1993, 1. Bd. S. 25.
  • 2. Ivan Illich: Entmündigende Expertenherrschaft, in: Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek bei Hamburg, !979, S. 13.
  • 3. Ivan Illich: Selbstbegrenzung, Reinbek 1975, S. 30.
  • 4. Illich a.a.O. S.175 f.
  • 5. Eigene Übersetzung von Tools for Conviviality 1973, Tools for conviviality, New York 1973, Harper & Row Publishers, http://ournature.org/~novembre/illich/1973_tools_for_convivality.pdf, S. 62.
  • 6. Illich a.a.O. S. 176.
  • 7. Beispiel China: 9-Tage Staus und Luft, die man nicht mehr atmen kann hat das Wachstum der Autoproduktion nicht im mindesten beeinflusst.
  • 8. Vandana Shiva
  • 9. Luc Boltanski: Individualismus ohne Freiheit, in: WestEnd, 5. Jg. Heft 2, 2008, S. 145.
  • 10. Rolf Schieder: In der Vorhölle, in: Luc Boltanski: Die Vorhölle, Berlin 2011, S. 130.
  • 11. Ebenda S. 130 f.
  • 12. Ivan Illich: Equity in Useful Unemployment and itsProfessional Enemies, in: Tecno-Politica, Juni 1977.