Charlotte Jurk
Charlotte Jurk

Dokumentation

Charlotte Jurk

Der Begriff - Gesundheit

Als Krisis bezeichnete man in der alten Medizin jene Phase des Höhepunkts einer Krankheit, an der es zum Umschlag kommt: Genesung oder Tod. In der Krisis wirken Kräfte, auf die der Arzt keinen Einfluss hat. Ein Überstehen der Krisis ist die Rückkehr der Gesundheit. Vielleicht kennen wir das noch von den Krankheiten unserer Kinder, in denen nach dem letzten Fieberschub die Heilung von selbst beginnt.

Ich möchte in dem, was wir »Splitter« genannt haben - dies ist gemeint als ein thesenartiges Anreißen von dem, was uns bedrängt, mehr kann es nicht sein - ich möchte also etwas sagen zu dem Apparatus, in dem ich viele Jahre auf verschiedenen Feldern gearbeitet habe: dem Gesundheitssystem.

  • Als Krisis bezeichnete man in der alten Medizin jene Phase des Höhepunkts einer Krankheit, an der es zum Umschlag kommt: Genesung oder Tod.
  • In der Krisis wirken Kräfte, auf die der Arzt keinen Einfluss hat.
  • Ein Überstehen der Krisis ist die Rückkehr der Gesundheit.
  • Vielleicht kennen wir das noch von den Krankheiten unserer Kinder, in denen nach dem letzten Fieberschub die Heilung von selbst beginnt.

Diese Erfahrungen gehören einer Welt an, in der Gesundheit und Krankheit noch voneinander geschieden waren. Gesundheit konnte man vielleicht noch vor 30 Jahren als ein Synonym für Wohlergehen verstehen, die Abwesenheit von Krankheit oder, wie Paul Valery es formulierte: das Schweigen der Organe. Gesund konnte man noch sein. Meine Großmutter war nie in einem Krankenhaus und der Arzt suchte sie erst in ihren letzten Lebensjahren auf. Gesundheit war zwar schon zum knappen Gut erklärt worden, aber sie war doch noch verfügbar. Der Arzt fragte noch: was fehlt Ihnen?

Heute ist das fundamental anders.

Gesundheit ist heute der fragile Zustand der Noch-Nicht-Krankheit. Gesundheit muss tagtäglich erkämpft, besorgt, erlaufen und erkauft werden. Gesundheit ist die Aufgabe, mit der wir nie fertig werden. 24 Stunden am Tag.

Ich habe mit Studierenden einmal eine Übung gemacht und gemeinsam überlegt, welche unserer Tätigkeiten vom Imperativ der Gesundheit angestoßen werden. Erstaunlich, was da alles zusammen kam:

  1. Wie viel und was darf ich essen?
  2. Habe ich zu wenig getrunken, das schadet den Gefäßen.
  3. Ich nehme das Fahrrad oder gehe zu Fuß, ich laufe die Treppen in den 6. Stock, weil ich mich sonst heute zu wenig bewegt habe.
  4. Die Heizung sollte nicht zu warm sein, das spart Energie und härtet mich ab.
  5. Auch kalt duschen soll die Gefäßklappen trainieren und gute Durchblutung fördern.
  6. Ich wasche mir jeden Tag die Haare, weil das gut für die Haut ist.
  7. Beim Sport brauche ich Funktionskleidung - Schweiß auf der Haut kühlt den Körper ab, schlecht.
  8. Ich kenne meinen Body-Mass-Index und achte auf seine Einhaltung.
  9. Den Rolladen sollte man nachts herunter lassen, weil der Körper Dunkelheit braucht.
  10. Ja, auch Telefonate sind für meine Gesundheit wichtig, weil ich dann meine Seele in Gleichgewicht bringe und ich weiß ja, wie gesundheitsfördernd soziale Kontakte sind.
  11. Hast du deinen Cholesterin-Spiegel im Blick?
  12. Nimmst du ausreichend rechtsdrehende Milchsäure auf?
  13. Fasten reinigt den Darm und dann bist du besser gegen Erkältung geschützt.
  14. Biologische Baumwolle unterstützt die Kleinbauern in Indien und hält deine Haut von Insektiziden frei.
  15. Fleisch enthält Antibiotika und schwächt dein Immunsystem. Auch biologisch erzeugtes Fleisch blockiert die Zellen durch zu viel Eiweiß. Deshalb ist vegan viel gesünder.
  16. Beziehung ist gut, weil dann lebst du länger.
  17. Der Glaube an Gott führt zu einer positiveren Lebenseinstellung, besonders gut für die Gesundheit.
  18. Auch lesen sollte man täglich, damit die grauen Zellen in Schwung bleiben.

Das Streben nach Gesundheit ist ganz und gar selbstverständliches Inventar des Inneren, mit moralischer Autorität versehen und ein Mittel der Selbstdisziplinierung.

Gesundheit ist heute ein gnadenloser Sollwert, der einem keine Ruhe lässt.

Die Gesundheit als Vertrauen in die eigene Leiblichkeit ist verschwunden. Der Arzt, das Medizinsystem - die Gesundheitsindustrie, sie alle fußen auf dem fundamentalen Glauben, dass ich von außen und innen stets reguliert werden muss, nur nicht zu sehr abweichen. Das Gefühl herrscht allgemein, dass mein Körper und meine Seele nicht in Ordnung sind, wie sie sind. Dissoziation, so nennt man das im Psychiatrischen. Mein Geist und mein Körper haben sich abgelöst. Das ist heute völlig normal. Ich bin der ständige misstrauische Beobachter meiner körperlichen und seelischen Befindlichkeiten. Zur Krisis, soll, darf es nicht kommen. Und genau das macht die Krise aus: In dauernder Alarmbereitschaft damit beschäftigt werden, die Krise zu verhindern. Die Krankenkasse heißt Gesundheitskasse, wir haben ein Gesundheitsministerium, Gesundheitsvorsorge, gesunde Schuhe, gesunde Matratzen, gesunde Ernährung. Und das alles, obwohl Gesundheit sich aufgelöst hat, einfach im Nichts verschwunden ist. Vielleicht sollten wir von Hypergesundheit reden, um überhaupt einen Begriff für diese Art der Generalmobilmachung zu haben. Alles ist erlaubt wenn es der Gesundheit dient. Wir leben in der besten der Welten, weil wir Gesundheit jederzeit herstellen können. Wir leben in der besten der Welten, weil wir immer älter werden können. Und es liegt nur an dir, ob du gesund oder krank bist. Der Gesundheitsimperativ steuert nicht nur unser Verhalten, sondern auch das Verhältnis zu unseren Mitmenschen. Mit Rauchern und Fastfood-Essern will man nichts zu tun haben. Das könnte beschmutzen. Mit dem verordneten Streben nach Gesundheit wird befördert, was mich vom Anderen trennt. Ich bin besser als du, weil ich mich biologisch- dynamisch ernähre. Das ist mein persönlicher Vorteil zum besseren Überleben deinesgleichen. Ein solcher Begriff von Gesundheit macht krank, weil er mich abtrennt, isoliert - Leben auf der Isolierstation. Wenn es Gesundheit nicht mehr gibt, dann ist das aufgegangen, was uns von Medizinern, Gesundheitsbürokraten und Ökonomen glauben gemacht wird: Gesundheit ist knapp, so knapp, dass es sie eigentlich nur noch gibt, wenn wir Tag und Nacht um sie bemühen. Sie kann nur durch den folgsamen Konsum aller möglichen Hilfsmittel noch am Leben erhalten werden. Auf diesem Glauben basiert die unglaubliche Wirtschaftsmacht des Gesundheitswesens, die heute an einem Höhepunkt angelangt ist. Wieviel Geld eine Gesellschaft für den Apparat verwalteter Gesundheit heute aufbringt, ist schwer herauszufinden. Es handelt sich ja hier nicht nur um die Kosten des Betriebs von Krankenhäusern, Arztpraxen oder Reha-Stätten. Dazu käme alles, was in privatem Gesundheitsgehorsam angeboten und konsumiert wird und natürlich die Umsätze der Pillenhersteller und der Geräteindustrie. Die offiziellen Zahlen geben also nur gewissermaßen den sichtbaren Teil des Eisbergs wieder: Die Gesundheitsausgaben sind in den letzten 15 Jahren dreifach schneller als das viel zitierte Bruttoinlandsprodukt (also die Summe aller Produkte und Dienstleistungen) BIP. Und der Gesundheitssektor ist in Deutschland inzwischen wichtigster Arbeitgeber. Rund 10 % aller Beschäftigten arbeitet in und um das Gesundheitswesen. Dass dieses in der Krise sei, hören wir schon seit den 1970er Jahren. Von Kostenexplosion war damals die Rede, die man mit einer Reform nach der anderen in den Griff bekommen wollte. Kostendämpfung hieß das. Heute besteht die Krise interessanterweise darin, dass zu viel gespart wird (tatsächlich steigen die Kosten brav Jahr für Jahr) und Unterversorgung droht.

Zwar ist das Ansehen der Ärztinnen gesunken, weil sie sogenannte Leistungen rationieren, die Patienten als standardisierte Fälle im Minutentakt durchwinken und Maßnahmen verschreiben, von denen man nicht weiß, ob sie mehr der ärztlichen Quartalsbilanz oder der Heilung. Quartalsbilanz oder der Heilung der Patienten dienen. Zwar hört man hier und da von Skandalen der Pharmaindustrie, die den meisten einfach nur unsympathisch ist. Man kann schon mal lesen, dass die Todesfälle aufgrund von resistenten Krankenhauskeimen höher sind, als die Zahl an Grippetoten jährlich. Wir wissen, dass Krankheiten erfunden werden, um mehr Diagnosen zu stellen. Wir wissen, dass Überdiagnose krank macht. Und doch: Im Drohszenario heutiger Medizin bin ich sofort hilflos, wenn es mich selbst betrifft. Da nutzt die ganze kritische Distanz nichts. Da schlägt sofort die Angst in Panik um: wenn das nun stimmt und ich demnächst einfach umkippe, weil ich das Medikament nicht genommen habe, nicht den grenzwertigen Blutwert eingehalten habe? Es ist inzwischen gelungen, ein Drittel der Versicherten zu chronisch Kranken zu erklären, Tendenz steigend. Lebenslanges Hängen am medizinisch-psychiatrischen Tropf. Denn wer glaubt denn heute noch bei einer diagnostizerten chronischen Krankheit an Heilung?

Warum hat gerade das Gesundheitsdispositiv eine solche Macht über uns? Warum glauben wir, wir seien tatsächlich programmierte Regelkreisläufe, die nur ordentlich kontrolliert und »eingestellt«, justiert werden müssen? Die tägliche Anstrengung: die Kontrolle aufrecht erhalten, nicht herausfallen, funktionsfähig bleiben. (Nebenbei: Hartz IV ist schon eine wirksame Vernichtungsdrohung) Warum glauben wir, dass uns nichts hält außer einer lautlosen Maschinerie der bezahlten Versorgung? Liegt unserem versehrten Verhältnis zu Körper und Seele eine diffuse Angst zugrund, die zutiefst verunsichert, weil nicht mehr gewußt wird, wogegen sich und andere schützen? Vielleicht offenbart sich hier eine basale und ungerichtete Angst, die uns umtreibt. Die beste aller Welten hat es trefflich verstanden, ihr krankmachendes Treiben zu verhüllen. Der Russ der Industrieanlagen, die chemischen Abgase sind nach China ausgewandert oder werden in ausgeklügelten Filtersystemen zu Feinstaub zermahlen, der weder riech- noch fühlbar ist. Hygienische Sauberkeit herrscht allerorten.

Der Konkurrenzkampf der Menschen untereinander wird Mobbing genannt, weil er sich tarnt. Noch die übelsten politisch-kriegerischen Aggressionen werden mit freundlichem Lächeln als Verteidigung von Menschenrechten präsentiert. Das, was uns aus dem Gleichgewicht, aus der Mitte, aus der Selbstverständlichkeit des So-seins wirft ist mehr und mehr der Wahrnehmung entzogen. Statt dessen soll jede und jeder nicht da draußen, sondern in der mangelnden Selbstoptimierung, in nachlässiger Vor- und Nachsorge den Grund für Krise und Zerknirschung suchen. Wir schlucken im Gesundheitsdiktat die Botschaft, dass wir vereinzelt und isoliert voneinander die beste Lebenschance haben. In Stein gehauen, auf Hochglanzbroschüren angepriesen, in Verhaltensregeln befohlen - ein Riesenapparat ist hochgezogen, um berechtigte Ängste in einer zerfallenden Welt und das Gefühl der Verlassenheit nicht spüren zu lassen. Bewußtseinsverändernde Drogen gehen aus diesem Gesundheitssystem in Millionen Dosen an diejenigen, die es doch spüren. Verzicht auf Gesundheit, das war die radikale Schlussfolgerung, die Ivan Illich gezogen hat, die ich lange nicht verstand, aber von der ich heute weiß, dass dies der einzige Weg ist, der kalten und sinnlosen Steuerung, diesem Kampf ums Überleben, zu entgehen. Dann lässt sich Freiheit wieder gewinnen und vielleicht auch eine Vorstellung davon, dass wir schlicht und einfach in der Regel gesund sind.

Krīsis (griech., Krise, »Urteil, Entscheidung«), in der ältern Medizin der Ausgang einer Krankheit in Genesung, wenn derselbe rasch und vollständig geschieht, während eine allmähliche Beseitigung einer Krankheit Lysis genannt wurde. Man hielt die K. für eingetreten, wenn nach hohem Fieber und andern bedrohlichen Erscheinungen der Kranke schnell ruhig geworden, zum Bewußtsein gekommen war und das Fieber nachgelassen hatte.

Von 1990 bis 2005 stiegen die Ausgaben für Gesundheit in Deutschland um 80 %, während das BIP »nur« um 37 % wuchs.