Dokumentation
Einführung in das Werk von Ivan Illich
Ich halte manchmal Vorträge. Ich bin nicht ungeübt in diesem Tun, und habe im Laufe der Jahre einiges der ehemaligen Beklemmung vor dieser Aufgabe verloren. Selten aber hatte ich solche Sorge, Unruhe, ja Verzweiflung als in der Vergegenwärtigung dieses Momentes heute morgen vor Euch.
Was machte es mir so schwer, mich darauf vorzubereiten? Meine Verzweiflung kam daher, dass ich keine »Stimme« finden konnte. Wie soll ich sprechen, da ich das Privileg hatte, mit dem Freund, von dessen Schriften wir sprechen, eine gewisse Nähe zu teilen, eine Färbung meiner Herzensfasern, die ich selbst bei grösster Selbstdisziplin nicht distanzieren kann - noch wegstecken möchte. Aber: ich war vertraut nicht mit einem Autor, sondern eben mit Ivan. Als ich ihn kennenlernte, in den späten 1970er Jahren, enthielt ich mich ganz bewusst, mit dem Autor Illich Bekanntschaft zu machen. Seine Schriften, die damals berühmten Bücher wie »Selbstbegrenzung« sagten mir, einer damals aktiven Feministin, ziemlich wenig. Genau genommen, ich fand sie rechthaberisch, oft unverständlich, meist unverdaulich … Später änderte sich das …
Und nun bat mich Marianne, Euch eine »Einführung in das Werk« von Ivan Illich zu geben. Ich war gerührt, dass mir Marianne einen Happen zugedacht hat, an dem ich mich verschlucken muss. Unvermeidlich. Weshalb verschlucken? Damit will ich beginnen. Ich bin sicher, dass der Titel etwas Unmögliches verspricht. Aus welchen Gründen? Ich denke, dass Ivan kein »Werk« geschrieben und nichts hinterlassen hat, das mit dem Begriff »Werk« bezeichnet werden kann. Unter dem »Werk« eines Philosophen, Sozialkritikers, Historikers verstehen wir eine Abfolge von Schriften, von Gedrucktem, die dieser nach und nach verfasste. Der Theologe, sagen wir z.B. einer aus der Ecclesiologie, verfasst eins nach dem anderen Traktate über die Wirksamkeit von Ritualen, Gesten, Worten – das kann Rituale in unterschiedlichen Zusammenhängen und Institutionen oder Epochen betreffen – dabei bleibt die Methode der Untersuchung immer die Gleiche. Ein solches »Werk« kann dann von den Bibliothekarinnen in den Katalogen unter den immer gleichen »subject headings«, den Schlag- oder Schlüsselwörtern katalogisiert werden. Ivan aber durchbrach in seinem Nachdenken und im Verschriften dieses Nachdenkens und Forschens alle präfabrizierten Klassifikationen. Es interessierte ihn sehr, wie er bibliothekarisch verschlagwortet würde und er freute sich über die Unmöglichkeit, ihn in solche Schachteln zu stecken, in der die Richtung des Nachdenkens bereits in der Klassifikation thematisch versachlicht wird. Die substantiven Indexwörter von Themen, z.B. Arbeitsteilung /division of labour passen z.B. nicht auf »Genus«, eher müsste es heißen: Geschichtlichkeit der Komplementarität des Tuns zwischen Männern und Frauen in der europäischen Vergangenheit …
Um Euch plausibel zu machen, dass dies keine nebensächliche Beobachtung ist, und die Frage, ob er ein »Werk« hinterlassen hat, unser Gespräch über die »Krise in der Jetzt-Zeit als Unding« in der Mitte tangiert, habe ich die Themen/ Gegenstände seiner Schriften vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Diese Liste will ich Euch nicht vorenthalten. Da geht es in ungeordneter Reihenfolge um: Erziehung, Medizin, Energiepolitik, Experten, Subsistenz, Fortschrittswahn, Frauenarbeit, die Geschichte der Arbeit, die Interpretation von Gesängen in der vorschriftlichen Antike, Mündlichkeit im Kontrast zu Schriftlichkeit, das Wiederkäuen des mündlichen Wortes durch fromme Murmler im 11. Jahrhundert, Wasser und die Göttin der Erinnerung, die Ökonomisierung des Sterbens, »housing by people«, Freundschaft, Kritik der Bioethik, Geschichte der Grenze, Geschwindigkeit, Geschichtlichkeit des Blickens, der Untergang der Proportionalität im 17. und 18. Jahrhundert, Sinnesgeschichte, Askesis, Krankenhäuser im frühen Christentum, Technologie, Wissenschaftssprache, Universität und asketische Bildung, Geschichte des Werkzeugs und der Instrumentalität, Geschichte der Ursache, Entstehung des erziehungsbedürftigen Menschen, Transportsysteme und Lähmung des Gehens, Konvivialität, Einsprachigkeit und staatlicher Zugriff auf die Sprechweisen / Zungen von Menschen, Gesundheit - Danke nein! … und so weiter und so fort. Das ist, derart aus den Zusammenhängen gerissen, ein absurdes Sammelsurium! Ist das ein »Werk«? Ivan wechselte Mitte der 1980er Jahre von seiner eisernen Triumph Reiseschreibmaschine zu einem Laptop. Aber nach wie vor führte er sein gesamtes bibliographisches Forschen auf 3x5 Kärtchen. Auf jedem dieser Kärtchen trug er eine Reihe von „subject headings“ ein, also Begriffe oder Konzepte oder Schlagwörter, die für ihn die untersuchte Sache beleuchteten. Begriffe, unter denen für ihn eine Sache bedeutsam war, z.B. unter »Experten« steht Arroganz, Radikalmonopol, Nationalsozialismus, Diagnose, Beichte.
Ich will festhalten: das ist kein »Werk« eines Akademikers, auch nicht eines Intellektuellen zu einzelnen »Themen«. Nicht der Gegenstand war bedeutsam an und für sich. Ivan war kein Forscher, der nach und nach im Laufe seines Lebens »Gegenstände« in der Jetzt-Zeit oder der Vergangenheit erforschte, wie wir das aus dem Wissenschaftsbetrieb kennen. Dort fragen einen Kollegen, nachdem man eine Untersuchung fertig stellte: »na, nun? An was arbeiten sie jetzt?« Der Faden, auf dem sich dieses scheinbar absurde Bündel von Themen aufreihen liesse, entsteht durch das »Licht«, das »lumen sub quo«, Ivans »lumen sub quo«, unter dem er den »Stoff« bedachte, erforschte … Dieses Licht blieb ähnlich und änderte sich doch erheblich, weil sich die Zeitläufte verändert hatten, in dem die Sachen ihm bedeutsam erschienen. Kracauer hat das in den »letzten Dingen« für mich eindrücklich gesagt – was sich ändert, ist nicht die Vergangenheit, sondern die Bezüglichkeit zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Die Gegenwart stellt uns vor neue Aufgaben, auch wenn die Gegenstände mit den gleichen Worten benamst werden, verlangen sie im Heute eine andere Betrachtung. Ich denke, Ivans Schriften sollten gelesen werden als Verschriftungen der Beobachtungen und Forschungen eines Pilgers durch die Zeitläufte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in immer neuen Ansätzen sich abmühte, den Sehepunkt zu schärfen, von dem aus er die Dinge beleuchten wollte. Die Schriften sind eminent »biographisch«, weil das lumen sub quo einzigartig von Ivan selbst ausging …
Bevor ich zur »Krise« komme, noch eine Bemerkung zum »Werk« und seiner geheimnisvollen Einheit. Eine Einheit, in der diese schier unglaubliche Vielheit unter eine Hutkrempe gesteckt werden kann. Jeder Aufsatz, jedes Buch, steht in einem Gesprächszusammenhang, genauer – das Motiv, sich damit zu befassen, steht meist im Zusammenhang eines Gesprächs unter Freunden. Thierry Paquot hat das in seiner Einleitung zum Zweiten Band der französischen Oeuvres Complètes wunderbar herausgearbeitet. Kaum traf man Ivan, fragte er einen: woran sitzt Du? Was treibt Dich um? Und kaum hatte man das gesagt, kam er mit Bündeln von Zetteln, Bibliographien und Adressen von Freunden, die darüber ebenfalls nachdachten, die dazu beitragen könnten, mit denen zu sprechen er einem wärmstens anempfahl. Die Themen entfalteten sich in den vielfachen Gesprächszirkeln, und in den living room consultations …, sodass er seine Studien im Gewebe eines fortwährenden, gebildeten und zugleich offenen Gesprächs entfaltete. Die Schriften sind Teil seiner peripathetischen Denkerei jenseits akademischer oder disziplinärer Scheuklappen. Ich meine, dass diese offene und dabei disziplinierte, strenge und zugleich neugierige Forschungsarbeit in einem freundschaftlichen Gesprächsgewebemzu den ganz grossen Leistungen von Ivan gehört. Weil er damit eine Form des Nachdenkens und der Freundschaftlichkeit förderte, in der Bücherstudium und Tischgespräch sich ergänzten und überraschend anregten ... Damit blieb das Hemmnis besitzergreifender wissenschaftlicher Disziplinen gebannt.
Nun zur »Krise«. Marianne hat gestern angemerkt, dass Ivan das Konzept in »Entmündigung durch Experten«, und ebenso in »Schöpferischer Arbeitslosigkeit« diskutiert, nicht aber weiterhin in späteren Texten. Und sie sagte, Ivan habe nicht mehr an eine Krise geglaubt, die auf einen Höhepunkt zustrebe, an dem diese »crisis« zu einem – erhofften - Ende kommen würde. Und zwar dadurch, dass sich etwas »entscheidet« und wir danach in Zeiten jenseits der Krise gelangen, die nun hinter einem liegt. Die jetzt-zeitige »Krise als Unding« ist hintergründig, auf Dauer gestellt. Marianne hat in starken Worten die apokalyptischen Vier Instanzen und ihren Anspruch auf Weltherrschaft angesprochen und die schiere Unmöglichkeit, dass es anders kommen könne, durch die scheinbar alles durchdringende Alternativlosigkeit. Ich denke, wir müssten über die Erfahrungen, die Ivan gegen Mitte oder Ende der 1970er Jahre machte genauer sprechen – in seinen Worten – nüchtern, illusionslos und im Begreifen dessen, was es geschlagen hat. Ich kann das nicht tun, ich weiß zu wenig darüber.
Wir haben gestern, Markus, Charlotte, Manuel und Reimer über die Jetzt-Zeit gesprochen. Als ich die Geschichten hörte, dachte ich daran, dass Ivan in den 1970er Jahren schrieb und das verlangte damals wohl etwas andres – er musste damals den progressiven Schein des Entwicklungsversprechens rhetorisch explodieren!! Er musste die Illusion, »die Welt« liesse sich durch alternative Projekte retten, als Täuschung bloß stellen. Deshalb hat er die Arroganz des Peace-Korps und die Verwicklung der christlichen Kirchen in diesen Feldzug gegen die Armut, das Analphabetentum, die Unterentwicklung so scharf besprochen. Das war ein ungeheurer Tabu-Bruch, der als Denkmöglichkeit fast unvorstellbar war. Gegen alle damaligen Selbstverständlichkeiten. Aber heute? Es glaubt niemand mehr an die Versprechen einer friedlichen Entwicklung. Beim Zuhören von Marianne und vor allem von Reimer fragte ich mich, was die Einsicht in die ausweglose, wie im Selbstlauf sich vollziehende kulturelle, und wirtschaftliche Zerstörung einem als inneres Echo abverlangt? Wie kann ich Marianne zuhören? Ohne völlig im Inneren, mit dem ich ihr zuhöre, gelähmt zu werden? Wie kann ich der Gemeinheit einer staatlichen Zwangsbeschulung, die den allermeisten Kindern nichts bringen wird, aber ihr Können, ihr handwerkliches Wissen, ihre Bereitschaft, die Notwendigkeiten zu schultern, unter denen sie stehen – wie kann ich diese niederträchtige Indienstnahme des Instrumentes der Schule, begreifen, welche diametral dem zuwider läuft, was einstmals an Versprechungen damit verknüpft war? Was – vor allem wie - kann ich dabei nachdenken? Welches Echo sollen diese Horror-geschichten in mir wachrufen? Ivan weigerte sich Mitte der 1970er Jahre weiter so zu sprechen, wie er das in seiner Entwicklungs- oder Medizinkritik getan hatte. Ich erinnere sein fassungsloses Gesicht, als bei seinem Vortrag zur Nemesis der Medizin die versammelte Kollegenschaft der medizinischen Fakultät der Universtät von Chicago achselzuckend da saß. Ungerührt ob Ivans Nachweis der Zweckwidrigkeit des Medizin- und Gesundheitssystems - »so what?« Na, und? Da zeigte sich als völlig sinnlos, dass er die »Langspielplatten« immer wieder abspielte, seine »juke box« …
Das so verwirrende »Sammelsurium« von »Themen« seit Mitte der 1970er Jahre im »Werk« von Ivan bezeugt für mich seinen Versuch, die Katastrophe besprechbar zu machen. Die Katastrophe, dass er recht bekommen hatte mit seiner prophetischen Einsicht in die langfristige Zweckwidrigkeit, Zerstörungswucht des weltweiten Entwicklungsprojektes; er wusste, dass es illusionär wäre zu glauben, dagegen ließe sich etwas machen. Die »Welt« ließe sich retten.
Ab hier muss ich noch mehr stottern. Jean hat gestern die beiden Denkbewegungen genannt, denen wirkliche historische Veränderungen entsprechen: eine Befreiungs- und eine Verlust-Geschichte. Und auf ein Drittes hingewiesen: die schiere Freude, dass wir da sind, gegenwärtig, mit allen unseren Sinnen! Haltlose Hoffnung; neugierig auf Überraschungen; mit nüchterner Trunkenheit; Und gänzlich jenseits der netten Normen von anständigem Benehmen. Von hier aus liesse sich das »Werk« in zwei Richtungen anschauen und ordnen: Einmal im Sichtbarmachen der Lügen und in den Verkehrungen des Guten…. Beispiel Karlsruher Urteil; Lebensschützer, Leben, Medizid!! Sterben!! Und zwar unter einer Perspektive, durch die Befremdung an den ungeheuerlichen Verkehrungen möglich wird, und durch die Distanznahme ein Stücklein Freiraum sich auftun kann … Zum anderen der Lobpreis, die Feier ... z.B. das Hüten der Glorie des schauenden Auges, im Angesicht des »Du«, die Pupilla. Exerzitien über die Künste des Liebhabens in einer todfeindlichen Welt. Die »Aktualität« von Ivan liegt genau da!!! Dann liesse sich sein Werk kennzeichnen als Reiseberichte eines gelehrten, ungemein gebildeten, befremdeten, sensitiven Beobachters im Absurdistan der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Ich habe mir zum Schluss etwas Andres vorgenommen. Ich will eine kleine Schrift kommentieren, die Ivan an eine befreundete Nonne schrieb, um sich an Father Bob Fox zu erinnern, einen Priester, der Zeit seines Lebens in Brooklyn lebte. In einem Viertel der Müllberge, der herumlungernden Jugendlichen, der üblen Gerüche und inmitten der Haufen herumliegenden Abfalls. Ich holte diesen Brief hervor, weil Ivan an Bob Fox die Lebenskunst bemerkt hatte, die Dinge um sich zu sehen und darin etwas Schönes zu erkennen. Bob Fox konnte beim Anblick von Armut den zwanghaften Impuls hinter sich lassen, es müssten sogleich die Mittel zu ihrer Beseitigung ersonnen werden. Ich übersetze Passagen dieses Briefes aus dem Englischen, teilweise summiere ich den Text mit meinen Worten.
Ivan erinnert sich an ihre erste Begegnung in den 1950er Jahren in Puerto Rico, »weil er mich zum Nachdenken brachte. In einem Augenblick mit ihm hatte ich verstanden, dass der Samariter nicht nach seinem Juden Ausschau gehalten hatte. Und kein Bedürfnis empfunden hatte, einer zu werden. Er hatte einfach einen erkannt, der überfallen und verprügelt worden war, und um dessentwillen er von seinem Weg abweichen würde, während der Schriftgelehrte und der Levit einen weiteren dieser Opfer gesehen hatten und mit ihren Geschäften fortfuhren. Ich sprach (mit Bob, während wir im Auto über die Berge von Ponce fuhren) über die Wahl, entweder ein Samariter zu werden – wie immer auch hochgestimmt und großherzig – oder ein Leben zu führen, das mit bedingungslos offenen Augen gelebt wird.« »Von Bob Fox lernte ich, den Glauben als Feier dessen zu verstehen, dass wir sehen was ist: lassen wir Gott sein, was und wer Er ist – meistens »Müll«, wie Bob in 25 Jahren auf den Strassen New Yorks verstanden hatte. Du hast die Wahl, wie er, durchs Leben zu gehen mit Deinen offenen Augen angesichts der entsetzlichen Erfahrung, der Entsetzen erregenden Folgen der Inkarnation, egal wie es Dich schmerzt oder lähmt. Aber Du könntest dem auch entkommen, es vermeiden. Du kannst wählen, huldvoll mit den Erfahrungen zu sympathisieren, die Du anderen zuschreibst – Schwarzen, Krüppeln, Überarbeiteten, geschlagenen Frauen, oder Drogenabhängigen. …« »Bob Fox wusste von der Versuchung, Gott an den Waisen zu dienen, die wir gemacht haben.« …
Von da geht Ivan in seinem Brief in die 1950er Jahre, als die Mehrzahl der US-Amerikaner noch meinten wie Präsident Hoover 1928, ‚näher am endgültigen Sieg über die Armut als jemals zuvor in der Geschichte zu sein- Wenige Jahre später proklamierte Kennedy den »Krieg gegen die Armut« , Jahrzehnte bevor Akademiker sich daran machten, die Sprache der Armuts-Grade, der Merkmale der Armut und der Armutsprogramme zu prägen, die seit damals so viele Bürokratien ermächtigt hat. Damals war die »Unterentwicklung« noch eine Neuprägung … Bob Fox beeindruckte Ivan, weil er sich davon nicht einfangen liess: »in wenigen Jahren wurden die »Armen«, in den USA und im Ausland, zu einer Mode; ihre Armut zu einem »Problem«, das gelöst werden müsse - entweder durch deren Verwaltung von oben oder indem man sich als Erzieher, Experte, Guerilla-Berater, community organizer den Armen anschloss. Experte ihrer Vertretung wurde. Armut wurde nun als Wunde gesehen, die geheilt werden muss. Das medizinische Paradigma setzte sich durch: Tests, Diagnosen, Therapie durch Eingriffe, Gaben oder Austausch des Metabolismus. Dies wurde der gemeinsame Bezugspunkt militärischen und ökonomischen Jargons. Die herkömmlichen »Übel« der conditio humana wurden in Ziele der Intervention verkehrt. Die neue Magie bestand darin, von den Übeln als »Problemen« zu sprechen, und sie auf diese Weise in einen »Bedarf an Lösungen« zu verwandeln. Die beiden Wörter – Problem und Lösung – wirkten wie Amoeben im Wortschatz katholischer Wohltätigkeit oder staatlicher Instanzen. Bob wusste um diese sprachliche Vermüllung. Mit dem gleichen Schmerz und der gleichen Geduld, mit der er die Müllberge in den Korridoren der Mietkasernen anschauen musste. Menschen, die umgeben und überwältigt sind von Müll, müssen, um sich erfahren und einsetzen zu können, mit der Schönheit und dem Guten in Berührung kommen, die da sind … »Und so bringst Du Kinder dazu, ein Stück Papier über einen Gulli-deckel zu spannen und es abzureiben. Der Gulli ist kommerziell designed und wurde für den Profit hergestellt. Aber der Gulli-Deckel hat Linien. Und die bilden Dreiecke. Und die können ausschauen wie Diamanten. Und in ihren äußerst funktionalen Aspekten – die Löcher sind dazu da, Wasser durchzulassen, es sind indes Kreise und so auch Gegenstände der Schönheit … Und wenn das Design des Deckels beim Abreiben durchzuscheinen beginnt, da, auf einmal, wird das Ding, das diesem Jungen oder Mädchen nichts gesagt hatte, bedeutsam … es verwebt sich mit der Person, denn die hat daraus, aus dem Gulli-Deckel, etwas gemacht … und sie hat es mit Anderen zusammen gemacht …
Inmitten des prätentiösen, soziologischen Geschwätzes, im Milieu der 1960er, in Zeiten des „Krieges gegen die Armut, des Kampfes gegen die Ungebildetheit, der »Ausrottung« von Malaria und Analphabetismus selbst mit »friedlichen Mitteln«, in der Mitte von all dem … verteilten ein paar Verrückte um Bob Fox Fotoapparate an die Kinder in New York, um festzuhalten, was schön ist in Harlem und Abreibungen von Gulli-Deckeln zu machen. Und zu welchem Zweck? »Um unsere Wahrnehmung dessen, was da ist, zu feiern.« Das verstand Ivan im Gespräch mit Bob Fox, »was es heißt zu leben; was es heisst, eine Person zu sein, die gegenwärtig und da ist; an jedem Stadium des Weges aufzunehmen, einzusaugen, tief zu trinken von allem, was da ist, eingeschlossen die Frustration und das, was schief gegangen ist, und dies in einem immer tieferen Gefühl der Einsamkeit … Und mit »Respekt«, was buchstäblich heißt, wieder und wieder zu schauen … Wieder zu schauen, zu re-spektieren, das heißt, mehr und mehr zu jener Person zu werden, die zusammen mit anderen das verwandelt, was da ist.«