Dokumentation
Krise und Universität
Ich möchte heute von der Krise der Universität sprechen. Nun spreche ich, als jüngster Vortragender dieses Symposiums, zu vielen Menschen, die große Teile ihres Lebens an dieser Institution verbracht haben. Was kann also mein Beitrag sein? Ich will von einer ganz persönlichen Erfahrung berichten, davon wie ich meine Universität durchlaufen habe. Ich habe hier in Frankfurt studiert. Und in Frankfurt hatte ich es mit besonders günstigen Bedingungen zu tun. Ich konnte in den letzten Jahren miterleben, wie das Studium durch die Reformen von Bologna umstrukturiert wurde, während sich diese Hochschule zu einer Stiftungsuniversität privatisierte. Zur selben Zeit zog die Universität auf einen neuen Campus um.
Zwar sind diese Umstände für ein Studium nicht gerade förderlich, aber hier in Frankfurt offenbarte sich mir dafür die Logik dieses neuen Studierens ganz unverstellt: In der Architektur dieses neuen Campus konnte viel klarer Form gewinnen, was sich Andernorts vielleicht noch verbirgt. Daher möchte ich sie nun einladen, mit mir den Campus meiner Universität abzuschreiten, gleichsam die Universität zu durchlaufen.
1. Nähern wir uns diesem neuen Campus zunächst einmal als Außenstehende an.
Der neue Campus befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen IG-Farben Konzerns. Der sogenannte Poelzigbau wurde bereits in den 30er Jahren als prunkvolle Heimstätte jenes Konzernes errichtet, der durch seine Verquickung mit dem Nationalsozialismus traurige Berühmtheit erlangen sollte. Die Architektur dieses Gebäudes formuliert eine erhabene Distanz, zu der ehrfürchtig aufgeblickt werden soll: Die Fenster in den oberen Etagen fallen kleiner aus, um das Gebäude höher wirken zu lassen, durch seine halbrunde, von Querbauten durchbrochene Form, ist es unmöglich, von einem Standpunkt aus, die Ausmaße des Baus zu überblicken. Das Gebäude wirkt, als müsse auch einem Ansturm standhalten können, als solle es draußen halten, was nicht hinein gehört.
Überhaupt versperrt der gesamte Campus, auch der neu errichtete Teil, derart die Zugänglichkeit: Er richtet zu allen Seiten hin Mauern, Hecken und an manchen Stellen sogar Stacheldrahtzaun nach Außen; die wenigen Zugänge sind von Sicherheitskameras überwacht. Wenn ich mich, zwischen Stacheldraht und Mauer, an den Überwachungskameras vorbeidrücke habe ich es immer mit einer Situation zu tun, in der ich mich in das Uneinsichtige begebe, für das ich aber total sichtbar bin. Die Universität als Außenstehender betreten heißt, dass ich eine totale Durchsichtigkeit auf mich nehme, während ich mich ins Dunkle begebe; es bedeutet, dass ich mich als Fremder den Blicken dieses unnahbaren Ortes aussetzen, dass ich – selbst blind – mich dem Durchblick dieser Institution anvertrauen muss.
Als Außenstehender habe ich es bei dieser Universität wohl tatsächlich mit einem undurchsichtigen Gebilde zu tun. Da thront sie, die Universität, dieser Hort der Wahrheit, zu dem ich ehrfürchtig aufblicke, von dem ich Antworten und Orientierung erwarte. Und antwortend ist die Universität: Sie leitet ihre Studierenden an, bringt Ordnung in die Wildheit ihres Denkens. Die Universität durchforstet diese Wildnis, zieht Schneisen, baut Straßen, um jeden dunklen Fleck dem Wissen zugänglich zu machen. Deswegen ist die Universität Aufklärung: Sie ersetzt den Glauben durch das Wissen, sie entschleiert die Verhältnisse, sie klärt den trüben Blick mit dem Licht der Wahrheit.
Von dem Moment an, da ich mich der Universität überantworte, da ich mich ihrem Durchblick anvertraue, ohne ihre Antworten kennen zu können, muss ich – paradoxerweise – auf die Wahrheit ihrer Antwort vertrauen. Die Blindheit dieses Vertrauens durch ein fragendes, kritisches also wissenschaftliches Denken zu ersetzen, müsste wohl die allererste Aufgabe der Universität sein.
2. Aber durchlaufen wir doch die Universität erst mal weiter; Betreten wir also den Campus.
Die Flure in den Institutsgebäuden und die Wiesenflächen zwischen ihnen zeichnen sich durch eine auffällige Leere aus, die die Universität unablässig mit allerlei Kunst vollstellt. Es handelt sich hier eben um einen musealen Raum, der dem freien Gebrauch entzogen ist. So verbot die Universität beispielsweise dem AStA das Aufstellen eines Zeltes während des Bildungsstreiks, mit dem Argument, die Wiese sei denkmalgeschützt. Diese leeren Stellen des Campus sind eben Durchgänge und keine Aufenthaltsräume; gedacht, um mich mein Ziel ohne große Ablenkung und Seitenblicke erreichen zu lassen.
Besonders auf den vielen Grünflächen zwischen den neu gebauten Institutsgebäuden springt diese wohlgeordnete Leere ins Auge. Kontrastiert wird sie von der Massivität der weit auseinander stehenden Gebäude, zwischen denen sie sich auftut. Die gleichmäßige Steinoberfläche der Bauten, mit ihren schmalen, gedrängten Fenstern lässt diese wie monolithische Blöcke wirken. Nichts steht aus ihnen hervor, keine Erker, keine Fensterbänke: alles ist Teil einer mächtigen, gleichförmigen Fassade.
Es herrscht eine eigentümliche Physik auf diesem Campus: Hier die Leere, die ein schnelles Vorankommen ermöglicht, in der jedwedes Verweilen zum Störfaktor wird. Eine Leere, die einsam und bedrohlich ist, wenn ich nicht weiß wohin. Und dort die Massivität der Gebäude, jedes für sich stehend, eines klar von dem anderen geschieden. Unweigerlich werde ich hier Teil der Auseinandersetzung zwischen Masse und Leere, gerate ich in die Anziehungskraft jener monolithischen Blöcke. Unausweichlich werde ich durch dieses Vakuum befördert, außer Stande zu verweilen, ohne Zeit und Raum für eigene Bewegung zu haben.
Wenn ich nun, meinen Lebensweg beschreitend, diese neue Universität durchlaufe, so finde ich mich von den Kräften jener eigentümlichen Physik erfasst: Module bilden hier die diskreten Einheiten in denen sich das Wissen organisiert findet, ein Dazwischen scheint es nicht zu geben. Ein strammer Studienplan befördert mich von Modul zu Modul, die Abfolge dieser »Lerneinheiten« ist exakt organisiert. Dass der »Workload« nicht die Anstrengung meines eigenen Forschens bedeutet, sondern eine Arbeit bezeichnet, mit der ich beladen werde, etwas das mich belasten soll, daraus macht das Wort gar keinen Hehl. Für jenes kritische, eigenständige Suchen, das auszubilden doch vorderstes Ziel der Universität sein müsste, bleibt keine Zeit: Wer sich an randständigen Fragen aufhält, und sich allzu komplizierten Fragen widmet, gefährdet das eigene Vorankommen und riskiert schlechte Noten.
Die Frage begegnet mir nur noch in Tests und „five-minute-papers“, die mich Woche für Woche weiter durch das vorgefertigte Curriculum treiben. Sie hat hier nichts Offenes mehr, sondern ist nur (wie im Kreuzworträtsel) der verborgene Hinweis auf die eine, richtige Antwort, die bereits feststeht. Das eigene tastende, fragende Voranschreiten auf einem unerforschten Gebiet, dieses krisenhafte Ringen um eine Wahrheit, scheint ersetzt durch eine fremdbestimmte Getriebenheit: Die richtige Antwort gibt es bereits, sie verbirgt sich nur hinter der gleichförmigen Fassade eines monolithischen Blockes, damit sie zu mir auf eine Distanz gebracht ist, die ich nun beständig überwinden muss.
3. Betreten wir nun einen dieser monolithischen Blöcke: Das House of Finance ist ein von Banken gestiftetes Institutsgebäude, das einen besonders privilegierten Platz mitten auf diesem Campus bekommen hat.
Bis hierher war es kein mühsamer Weg, mühsam war es nur innezuhalten, stehenzubleiben, sich umzublicken. Und so fällt es mir auch nicht schwer, das House of Finance zu betreten: Die Türen öffnen sich automatisiert. Gleich neben dem Eingang befindet sich das Café »Börse«. Die Wand in diesem Etablissement ist verspiegelt und mit kurzen Zitaten bedeutender Ökonomen beschrieben. Es ist nicht leicht, von einem Spiegel etwas abzulesen: jede Bewegung in dem kleinen Raum zeichnet sich auf dieser optischen Fläche ab, es ist hier beständig Alles zu sehen. Vor diesem vielfältigen Gegenlicht ist die weiße Schrift auf dem Spiegel kaum zu lesen. Glücklicherweise scheint sich aber in einzelnen Worten die ganze Farbe des Satzes zusammengezogen zu haben. In schwarzen Lettern lesen wir: »Investiere«, »Reich«, »verkaufen«, »100 %«, »Geld«. Die Sätze sind so ihrer fragenden, forschenden, dialektischen Natur beraubt. Sichtbar ist hier nur die wichtige Information, befreit von störendem Beiwerk. Bei all der Sichtbarkeit muss ich dankbar sein für die Orientierung, die diese Verdichtung mir bietet.
Ähnlich schwer ist es wohl auch, an diesem hellen Ort beim Studium zur Ruhe zu kommen. Zwischen dem »Lectureroom Deutsche Bank« und dem »Restroom« gelegen, befindet sich die Bibliothek. Aber es handelt sich nicht etwa um eine »Library«, der Raum trägt vielmehr den trefflichen Namen »Information Center«. Zum Innenhof wie auch nach Außen hin ist dieses »Center« verglast. Jeder Lesende findet sich hier in eine Situation ständiger Sichtbarkeit versetzt. Dies ist kein Ort der Ruhe. Es gibt hier keine Ecken in die ich mich, in ein Buch vertieft, zurückziehen und meiner Lektüre hingeben kann. Es handelt sich also tatsächlich um einen Raum zentral versammelter Informationen, die ich mir eilig einverleibe, um sie bei der anschließenden Klausur im »Lectureroom Deutsche Bank« korrekt wiederzugeben: »Investiere«, »Reich«, »verkaufen«, »100 %«, »Geld«.
Wo stehe ich eigentlich nun, da ich diese Universität durchlaufen habe und in ihrem Inneren angelangt bin? In welcher Beziehung befinden sich Frage und Antwort, da ich jetzt selbst Forschender und Lehrender geworden bin? Ich schlage vor, diese verspiegelte Wand des Café Börse als die Seite zu lesen, auf der die Universität heute schreibt. Eine Seite, auf der sich alles zeigt, auf der nichts verborgen bleibt. Jede noch so zufällige Geste ist wichtig. Alles ist potentielle Information.
Eine derart mit Information überfüllte Seite nötigt mir ein neues Schreiben und Lesen ab: In den Methodenkursen der Schreibzentren lerne ich Schreibtechniken und Speed-Reading. Wie auf der verspiegelten Seite verdichtet sich, in der Hast des über alles hinweg fliegenden Speed-Reading, die wichtige Information in wenigen Wörtern und in übersichtlichen Grafiken. Wer über Formulierungen stolpert, wer den Text zweifelnd, fragend beiseitelegt, gerät ins Hintertreffen. Und auch die Lehre wird mit der rechten Methode optimiert: »Es ist nicht notwendig, auf alle Fragen der Studierenden eine Antwort zu geben«, heißt es da »das ist nicht deine Aufgabe!« Als Lehrender soll ich mich als Steuermann eines Seminars begreifen: Fragen sind keine Irritation, sie werden einfach gesammelt, auf bunte Zettel geschrieben und in »Clustern« auf der Tafel arrangiert. Das kybernetische, das gesteuerte Seminar kreist so um eine inhaltsleere Kommunikation: »gute« Fragen sind solche, die ihre Antwort bereits enthalten; die Antwort besteht aus einem Arrangement von Fragen.
In der beständigen Evaluation von Lehrenden und Studierenden bringt die Universität ihre Methode schließlich auf sich selbst in Anwendung. In ihr sind Frage und Antwort nun vollends ununterscheidbar geworden. Die Evaluation weiß die Antwort, daher kann sie fragen: sie weiß bereits, wie das gelungene Seminar aussieht, nur so kann sie dessen Erfüllung messen. Und sie ist die Antwort, indem sie fragt: das sich in Frage stellende Seminar ist das gelungene. Die ständig „wertende Messung“ der Evaluation ersetzt den krisenhaften Moment eines hinterfragenden Zweifels durch das beständige Pegeln um einen Sollwert.
Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass die Universität jemals der Ort war, das randständige Denken zu fördern – sie betrieb immer schon eine Monopolisierung des Wissens. Doch lange Zeit war sie sich bewusst, dass zwischen Frage und Antwort immer ein Rest bleibt, eine Leerstelle, ein Unbestimmbares, auf dessen Offenbarung wir verwiesen bleiben: weder offensichtlich, noch verborgen, unmittelbar naheliegend und doch ungreifbar ist die Erkenntnis eben mehr, als die versammelten Antworten und liegt jenseits des Stellens von Fragen.
Ich beklage hier keinen Fehler, kein Misslingen dieser Institution, sondern vielmehr ihre absolute Verwirklichung, das Fehlen jeder Leerstelle in ihr. Weil die Universität jedes Fleckchen ausleuchten will, weil ihr Nichts verborgen bleiben soll, hat sie alle Nischen getilgt und mit der leeren Positivität einer um sich selbst kreisenden Kommunikation gefüllt. In diesem Leerlauf besteht ihre Krise als Dauerzustand.
Es gibt im House of Finance eine Büste zu ehren der Deutsche Bank, die das Emblem des Kreditinstituts zeigt: ein Quadrat mit einem Strich durch, die Rückseite der Installation ist verspiegelt. Wenn ich dieses Büste betrachte, zeigt sich mir ein interessantes Bild: ich sehe mich selbst, eingerahmt in einen quadratischen Kasten – in der Mitte bin ich durchgestrichen.