Es begann mit einer Beunruhigung
Der Beunruhigung darüber, dass die Bücher Ivan Illichs aus den siebziger Jahren in unserem Bücherbord deutliche Zeichen der Auflösung zeigten. Sie fielen nicht nur auseinander, sondern vergilbten und begannen sogar zu zerbröseln, einmal abgesehen davon, dass die eigenen Unterstreichungen und Randnotizen, das eigentliche Textcorpus überwuchert hatten.
Und dann waren da ja nicht nur die Bücher, sondern die unveröffentlichten Texte, die Illich in den letzten Lebensjahren seinem Computer anvertraute. Er hatte die Gewohnheit, wenn ich ihn besuchte, mir Texte aus diesem Computer auf eine Diskette, die kaum noch erinnerliche Vorläuferin von USB Sticks, CD-Roms und externen Festplatten, zu ziehen. So um die 25 kürzere Texte passten damals darauf. »Da, nimm’s mit«, sagte er und ich hörte daraus: »Lies es, bewahr es auf, mach was draus, oder gib’s weiter«. Daran habe ich mich gehalten. Nicht alles gelesen, manches weitergesagt, aber alles sorgsam aufbewahrt, anfangs ungeordnet, später halbwegs geordnet. So wie ich, wurden auch andere seiner Besucher mit Texten, Notizen, Leseempfehlungen, Literaturangaben, Zetteln aus den Zettelkästen versehen, die zu ihren jeweiligen Arbeitsvorhaben passten. Und das war nun ein weiterer Grund der Beunruhigung. Unbedingt müsste man, diese Ablagerungen gemeinsamen oder einsamen Nachdenkens sammeln, damit all das nicht, in alle Winde zerstreut, irgendwann, irgendwo ‚entsorgt’ würde. Wie viele Male wir im Wiesbadener Freundeskreis »Man müsste unbedingt...« sagten, ohne dass dann etwas daraus folgte, weiß ich nicht.
Im Oktober 2011 riefen Gunhild und Uwe Pörksen einen Kreis von Illich-Freunden zusammen, um mit ihnen die Frage der Aktualität Ivan Illichs zu erörtern. Bei der Gelegenheit lernte ich Franz Tutzer aus Bozen kennen, der, wie wir erfuhren, nicht nur »Man müsste...« gesagt hatte, sondern tatsächlich seit den 1970er Jahren die Publikationen Ivan Illichs in deutscher, italienischer und englischer Sprache sorgfältig und beharrlich gesammelt hatte. Aus dieser Begegnung entstand eine wunderbar freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Bozen und Wiesbaden. Entlang dieser Bestandsliste haben wir zu sammeln begonnen und wurden dabei unermüdlich von Franz Tutzer unterstützt. Andere folgten und stellten ihre Bestände zum Kopieren zur Verfügung, Wolfang Sachs, Heinrich Dauber, und Barbara Duden, die uns mit Kirsten Vogelers sorgfältiger Aufbereitung die Texte der Bremer Jahre aus dem Computer und aus Material-Ordnern, die Ivan Illich noch selbst für künftige Publikationen zusammengestellt hatte, erschloss. Jean Robert schickte uns aus Mexiko seine gesammelten CIDOC-Dokumente, also die Publikationen, die während der Cuernavaca-Jahre bis 1976 entstanden. Diese Sammlung weist noch Lücken auf, füllt aber bereits ein ganzes Bücherbord.
Was dort in Wiesbaden heranwächst, nennen wir Illich-›Archiv‹. Die Anführungsstriche weisen darauf hin, dass die Sammlung weniger eine Angelegenheit von Professionellen als von Dilettanten ist; von ›Dilettanten‹ im wörtlichen Sinn: das ›Archiv‹ ist eine Sache unter Freunden und Liebhabern. Es dient dem Denken nach und mit und über Ivan Illich, es steht also zu Forschungszwecken zur Verfügung.
Die Aufgabe ist unerschöpflich, nicht zuletzt deshalb, weil Ivan Illich in beinah alle existierenden Schriftsprachen übersetzt wurde.
Im Archiv gibt es verschiedene Unterabteilungen, denen die Fundstücke zugeordnet werden. Da sind zunächst die Texte von Ivan Illich selbst. In einer zweiten Abteilung finden sich Kommentare zu diesen Texten. In der dritten Abteilung Texte, die von Freunden und Weggefährten im Geiste von, angeregt durch und in Auseinandersetzung mit Ivan Illich geschrieben und publiziert wurden. In einer vierten Abteilung sammeln wir - nicht systematisch, eher beiläufig – Texte von Autoren, auf die Illich sich immer wieder berufen hat. Autoren, die teils seine Lehrer teils langjährige Gesprächspartner, teils wichtige Impulsgeber waren. Die fünfte Abteilung enthält die spärlichen biographischen Materialien, die es über Illich gibt, die Nachrufe nach seinem Tod eingeschlossen. Eine kleine Sammlung von Film- und Tondokumenten wie auch eine noch ungeordnete Sammlung von Fundstücken aus dem Internet sind ebenfalls im Bestand.
Die Publikationen aus diversen Antiquariaten, die Fotokopier- und Buchbindekosten, das erforderlichen Mobiliar und die Büromaterialien werden laufend von der Stiftung Convivial finanziert.