Wer war Ivan Illich? Es ist weder möglich, noch angemessen, ihn in einer kurzen Präambel vorzustellen. Aber ein wesentlicher Ausgangspunkt seines Nachdenkens lässt sich ausfindig machen: George Steiner hat seine Paulskirchenrede zur Verleihung des Ludwig Börne-Preises eröffnet mit dem Satz: »Wie Sie wissen, bezeichnet Aristoteles das Erstaunen, thaumazein, als den Ursprung alles philosophischen Nachdenkens.«
Ivan Illich geht einen anderen Weg. Sein Philosophieren, seine Forschung und sein Fragen beginnen nicht beim Staunen, sondern beim ganz und gar nicht Staunenswerten, bei den modernen Selbstverständlichkeiten, die so sehr im Recht zu sein scheinen, sich so sehr als Natur der Sache darbieten, dass sie aller Frag-Würdigkeit entzogen sind und uns die Möglichkeit verstellen, sie als historisch geworden und darum auch als wandelbar zu begreifen. Den mythenbildenden Ritualen auf denen sie fußen, gilt Illichs Aufmerksamkeit.
»Eine konviviale Gesellschaft entstünde auf der Grundlage gesellschaftlicher Regelungen, die dem einzelnen den umfassenden und freien Zugang zu den Werkzeugen gewährleisten und diese Freiheit nur um der gleichen Freiheit eines anderen willen einschränken können.« (Ivan Illich, Selbstbegrenzung S. 30)
Wer bezweifelt ernsthaft, dass es in Schulen und Hochschulen um Bildung geht, in Krankenhäusern und Arztpraxen um Gesundheit, dass mehr PS und mehr Autobahnen uns mobiler machen und Wachstum Arbeitsplätze schafft? Wer würde daran zweifeln, dass es besser ist, es bequem zu haben als unbequem, besser, Insider zu sein als drop out, besser, gut versorgt zu sein als sorglos unversorgt? Illich hat daran nicht nur vage gezweifelt, sondern präzise Belege für die Unhaltbarkeit der Grundannahmen moderner Gesellschaften geliefert.
Normalerweise muss man das, was man erkennen will, genau und aus der Nähe betrachten. Bei den Selbstverständlichkeiten ist es anders. Zu ihnen muss man auf Distanz gehen, um sie überhaupt wahrnehmen zu können. Zwei Möglichkeiten sieht Illich, diese notwendige Distanz zu gewinnen. Man kann aus dem Blickwinkel einer fremden Kultur auf unser Treiben schauen und sich befremden lassen, von dem, was man dann zu Gesicht bekommt. Oder man muss in die Vergangenheit zurückgehen um mit den Augen derer, die vor uns waren, sehen zu lernen, wie ver-rückt unsere Gewordenheit sich darbietet.
Illich war in mehr als einem Dutzend Sprachen in Wort und Schrift zu Hause. Aber keine der modernen Sprachen, die er zur Verfügung hatte, ließ ihn fremd genug werden in der modernen westlichen Welt, um die Verstecke der gültigen Selbstverständlichkeiten aufzustöbern. Die Sprache schließlich, die ihm am vertrautesten war und ihn zugleich am weitesten distanzierte von der modernen Gegenwart, war das Lateinische. Und so hat er sich mit den Gelehrten des 12. Jahrhunderts verbündet, um unter ihrer Anleitung das entsetzte Staunen über die Selbstverständlichkeiten der Moderne zu üben.