Über die Verzweckung von Leben und Bildung
Preisrede zur Verleihung des Salzburger Landespreises für Zukunftsforschung
Der Preis, der mir heute verliehen wurde, freut mich und ehrt mich sehr und macht mich zugleich beklommen. Zuweilen ist die Beklommenheit sogar stärker als die Freude an ihm. Er trägt das Wort ›Zukunft‹ ja bereits in seinem Namen. Und das gemahnt daran, dass er mehr ist als eine Anerkennung für geleistete Arbeit, die man entgegennehmen und mit der man dann vergnügt seines Weges gehen kann. Vielleicht kann ich die Anerkennung, die mir heute zuteil wird, so verstehen, dass das, worüber ich im Laufe der Jahre öffentlich nachgedacht habe, zumindest von einigen Lesern oder Hörerinnen anstößig und hilfreich genug befunden wurde, um weiteres Nachdenken zu inspirieren und weitere Diskussionen in Gang zu setzen. Dann verpflichtet mich der Preis, mich auch künftig von dem, was um uns herum und in uns selbst tagtäglich geschieht, beunruhigen und empören zu lassen und von dieser Beunruhigung, so lange und so gut ich kann, Mit-teilung zu machen, das heißt, sie mit anderen zu teilen. So viel zur Frage nach dem ›Wozu‹ des Preises. Und was nun Verdienst und Würdigkeit angeht, so bin ich froh über die Gelegenheit, einen Dank abstatten zu können an die Lehrer und Lehrerinnen, welche mich lehrten, an den modernen Selbstverständlichkeiten, die so unbestreitbar scheinen, dass sie jeden Einwand entmutigen, zu zweifeln. Diesen Lehrern verdanke ich die wichtigste Frage, die neben dem Staunen die Quelle allen Nachdenkens ist, die Frage: »Und wenn es nun ganz anders ist?« Einigen von ihnen bin ich noch persönlich begegnet, Erich Fromm, Ivan Illich und Robert Jungk. Andere haben meinem Nachdenken durch ihre Bücher die Richtung gewiesen. Hannah Arendt, Günther Anders, Eugen Rosenstock-Huessy, um einige von ihnen zu nennen. Ihnen gebührt die Anerkennung, die mir zuteil wird. Mein Bemühen galt und gilt der Aufgabe weiterzusagen, was ich bei ihnen gelernt habe, und das so redlich wie möglich zu tun.
Robert Jungk war der erste Preisträger, und der Preis ist um seinetwillen, und um ihn zu ehren, gestiftet worden. Ihnen, lieber Herr Spielmann, danke ich die wohl eindringlichste Begegnung mit ihm. Wenige Wochen vor seinem Tod war ich in Salzburg zu einem Vortrag und Sie kamen eigens, um mich zu fragen, ob ich ihn nicht in dem Pflegeheim, in dem er und seine Frau nach seinem Schlaganfall lebten, besuchen wollte. Ich fand ihn sehr verändert vor. Er lag mehr, als dass er saß, in einem Pflegestuhl und war körperlich hilflos. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Aber er klagte nicht. Dass ihn die Krankheit niedergestreckt hatte, nannte er einen heilsamen Zwang, endlich von der Getriebenheit und Unrast abzulassen, die ihn von hier nach dort reisen ließ, um den »Aufstand gegen das Unerträgliche«, wo immer er sich regte, zu bestärken und zu dokumentieren. Jetzt habe er Zeit zum Nachdenken. Als ich mich von ihm verabschiedete, flüsterte er mir ins Ohr: »Und es muss uns doch gelingen, eine menschliche Zivilisation zu bauen.« Der Satz war mit enormer Eindringlichkeit und großer Autorität gesprochen. Ein starker Satz von einem dem Augenschein nach schwachen Menschen. Ich habe Robert Jungk immer als einen Menschen erlebt, der sich die Hoffnung nicht nehmen ließ, nicht von denen, die alle Macht hatten und haben, sie zuschanden werden zu lassen. Ich erinnere mich sehr gut, dass ich ihm seine Fähigkeit, an der Hoffnung festzuhalten, oft übel genommen und sie als eine Art Selbstbeschwichtigung gedeutet habe, die der Verzweiflung nicht standhält. Er hat mich darin gewähren lassen und mir meine Verzweiflung gegönnt. Heute bin ich so alt, wie er damals war, und weiß, wie viel schwerer es ist, zu hoffen als zu verzweifeln, denn die Verzweiflung geht mit der Vernunft zusammen, aber die Hoffnung ist, so wie die Dinge liegen, wider alle Vernunft. Welch ein Irrtum, ihm Selbstbeschwichtigung zu unterstellen. Er hat gekämpft gegen den Mister S., der sich seinem eigenen Bekunden nach immer wieder in ihm meldete: »S für Skepsis, S für Skrupel. S für Schwarzseher. Ich hab’s nicht leicht mit ihm. Sobald ich mich begeistere, flüstert er mir zu: ›Nüchtern bleiben.‹ Will ich mich an einer Hoffnung hochziehen, hängt er sich mit seinem verfluchten Gewicht an meine Füße, beginne ich zu träumen, sticht er in die Seifenblasen, und schon hängen da nur noch ein paar armselige Tröpfchen.»1 „Wer sind wir, daß wir entscheiden könnten, es gebe keine Hoffnung mehr?“ fragt Ronald D. Laing in seiner ›Phänomenologie der Erfahrung‹.2 Wie wahr, aber zugleich wie ungemein schwer.
»Es muss uns doch gelingen, eine menschliche Zivilisation zu bauen.« Dieser hoffnungsstarke Satz, den mir Robert Jungk mit auf den Weg gab, hat eine dunkle Kehrseite, denn im Umkehrschluss sagt er, dass die Zivilisation, in der wir uns eingerichtet haben, unmenschlich ist. Das stellt klar, dass die Hoffnung keineswegs der beschwingte Muntermacher ist, als den wir sie gern hätten. Es gibt keinen Trost mehr, schreibt Adorno, »außer in dem Blick, der auf das Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.«3 Hoffnung, die sich den Gang durch die Verzweiflung erspart, verdient ihren Namen nicht. Aber würden wir denn der Diagnose, dass unsere Gesellschaft von Grund auf unmenschlich ist und dass uns vor ihr grauen muss, zustimmen wollen? Verhöhnen wir damit nicht die Menschen, denen es wirklich schlecht geht unter dem Regime von Hunger und Diktatur? Muss man nicht Robert Jungk gegen eine solche Überzeichnung und gegen solche Wendung ins Düstere in Schutz nehmen?
»Der Aufstand gegen das Unerträgliche« ist der Untertitel seines 1986 erschienenen Buches ›Menschenbeben‹. Das Unerträgliche und das Unmenschliche, waren ihm fast ein und dasselbe. Wie Bert Brecht mitten im Nationalsozialismus, so fand sich auch Robert Jungk 50 Jahre danach in finsteren Zeiten vor. »Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!« schreibt Bert Brecht in einem Gedicht »an die Nachgeborenen«; Zeiten, in denen »ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt.«4 Diese Erfahrung wird uns erlassen. Wir entreißen niemandem, was wir verzehren, und ein Glas Wasser fänden wir nicht einmal der Rede wert. Wir können essen und trinken, ohne dem Nachbarn das Seine zu rauben. Aber können wir wirklich glauben, dass unser täglich Brot niemandem fehlt, nur weil der arme Lazarus nicht auf unserer Türschwelle hockt und es uns erspart bleibt, ihn wegzujagen? Dass wir, wohlgenährt, niemandem auf dem Rücken sitzen, ist eine der Lebenslügen, mit denen wir uns unser Wohlleben versüßen. Denn wir sind weit davon entfernt, nur ›unser täglich Brot‹ zu verlangen. Wir lassen auffahren, was die Welt zu bieten hat, koste es, was es wolle. Und was wir beanspruchen, kostet tatsächlich sehr viele ihr täglich Brot.
In einem Fernsehbericht erfuhr ich unlängst von den Coltan-Minen in der Demokratischen Republik Kongo. Coltan ist ein unerlässlicher Rohstoff zur Herstellung von Handys und Laptops. Die Minenarbeiter, die meisten von ihnen Kinder und Jugendliche, holen ihn unter unmenschlichen Bedingungen aus der kongolesischen Erde. Wie viele dabei in den völlig unzureichend gesicherten Stollen lebendig begraben werden und aus dieser Hölle nie wieder auftauchen, weiß niemand. Die an diese Dokumentation unmittelbar anschließende Bildsequenz zeigte lange Menschenschlangen vor Geschäften; wie in der Nachkriegszeit, als es um ein mageres Maisbrot ging. Jetzt standen die Menschen stundenlang an, um die ersten zu sein bei der Auslieferung der neuesten Version5 des iPhones, das die Firma Apple mit enormem Werbeaufwand angekündigt hatte. Am Tag Eins nach dem Erscheinen des Geräts wird es, das wissen die Käufer, die sich da drängen, eine neue Klassengrenze geben zwischen denen, die es haben und denen, die nicht einmal davon träumen können, es zu haben. Beklagenswert sind diese Drop Outs nicht, weil sie es nicht haben, sondern weil ihre Träume von einem iPhone von Apple okkupiert werden. Wieviel Handys lassen junge Leute verschwinden, damit sie das neueste fordern können, denn davon hängt ihr Ansehen auf dem Schulhof ab. Es ist üblich und ganz selbstverständlich geworden, die »soziale Zugehörigkeit einzelner nach dem Alter der von ihnen benutzten Dinge zu bestimmen«, schreibt Ivan Illich. »Überall dort wo die Ökonomie auf der Massenproduktion von elaborierten und schnell veraltenden Fertigwaren fußt, stehen nur den Privilegierten die neuesten Waren- und Dienstleistungsmodelle zur Verfügung.«6 Und während wir uns um das Allerneueste reißen und das Veraltete verächtlich zum Müll werfen, ahnen wir nicht einmal, dass wir mit dieser Begehrlichkeit den Kindern, die in den Coltanminen verschmachten, auf dem Rücken sitzen.
Tatsächlich sind aber auch die, die da obenauf sitzen Opfer einer Unmenschlichkeit, wenn sie sich Anerkennung und Zugehörigkeit mit einem iPhone erkaufen müssen. Es gibt ein Elend auch in der zweiten Etage, auch wenn es mit dem im Keller nicht vergleichbar ist.
Robert Jungk beschämt mich, weil ihm tatsächlich die Unmenschlichkeit, die er scharfsichtig und hellhörig auch dort wahrnahm, wo andere sie nicht einmal vermuteten, unerträglich war. Er beschämt mich, weil er noch im Vollbesitz seines Mitgefühls war, weil ihn das Unrecht, das anderen widerfuhr, nicht zur Ruhe kommen ließ; und gleichzeitig gibt er mir damit Grund zur Hoffnung.
Wenn das nun die Lebensaufgabe wäre, Anderen Grund zum Hoffen zu geben. Wenn darin die Frage nach dem Lebenssinn zu ihrem Ziel käme. Dann müssten wir uns tatsächlich zuallererst abverlangen, die Unmenschlichkeit aufzuspüren, denn nur wenn wir sie bis in unsere Leiblichkeit hinein spüren, könnten wir sie unerträglich finden und gegen sie aufstehen. Wir müssten uns tatsächlich vor unseren Verhältnissen grauen lassen und den Vorwurf des Kulturpessimismus, der Larmoyanz, der Apokalypsegeilheit und der Katastrophilie auf uns sitzen lassen. Wir müssten die Sachzwänge, die sich als unvermeidlich und alternativlos präsentieren, böse und unmenschlich zu nennen wagen und uns weigern, uns mit ihnen zu arrangieren. Wir müssten unsere Nichteinverstandenheit zu Protokoll geben. Im Zuge dieser Spurensuche könnte es uns widerfahren, dass uns das Unmenschliche dann auch wieder unerträglich würde und die dumpfe Fühllosigkeit von uns wiche.
Der Unmenschlichkeit auf die Spur zu kommen, ist heutzutage eine fast unlösbare Aufgabe.
- In den reichen Gesellschaften, in denen für alles gesorgt ist, ist sie nahezu unsichtbar. Ungerechtigkeit lässt sich auch in unseren Breiten noch dingfest machen. Sie treibt die Menschen neuerdings wieder auf die Straße, um die Besetzung der Kathedralen des Geldes zu fordern: ‚Occupy Wall Street’. Aber gegen Unmenschlichkeit glauben wir doch durch Demokratie und Rechtsstaat gefeit zu sein. Unmenschlichkeit hat bei uns eine gewisse Eleganz angenommen, sie ist von souveräner Unauffälligkeit.
- Die in den armen Ländern praktizierte Unmenschlichkeit hingegen ist für uns grell sichtbar, aber doch so, dass sie uns nicht unerträglich werden kann. Wir können sie uns allabendlich als einen Happen Unterhaltung zu Gemüte führen. Diejenigen, die sie erleiden, fungieren als Statisten in einer Inszenierung, die uns zur besten Abendbrotszeit erlaubt, uns augenblicksweise betroffen zu fühlen - bis zur nächsten Meldung, die dann die vorangegangene wohltuend erledigt. So lernen wir hinzuschauen, ohne etwas zu sehen, uns informieren zu lassen, ohne etwas zu begreifen und betroffen zu sein, ohne etwas zu fühlen. Eine Schule der Nation zur Herstellung, ›landesweiter Unzurechnungsfähigkeit‹, um Ivan Illich zu zitieren.
Unmenschlichkeit, die ihr Inkognito wahrt, die elegant und unauffällig bleibt, kann es das geben? Um das zu begreifen, müssen wir unser Augenmerk auf einen Wandel richten, der sich in den letzten 20 Jahren kaum merklich vollzieht: Wir befinden uns im Übergang in eine ›menschenlose Gesellschaft‹. Erst in ihr vollendet sich ihre Erbarmungslosigkeit. Natürlich sind die Menschen immer noch da, aber nicht mehr füreinander und nicht einander gegenüber als Du und Du. Menschen aus Fleisch und Blut verschwinden einer nach dem andern in Statistiken und bürokratischen Arrangements, sie tauchen wieder auf als Kontoposten in besorgniserregenden Bilanzen, in Normalkurven und Modellrechnungen, als Faktoren, die zu berücksichtigen sind oder vernachlässigt werden können, sie werden ungefragt kategorisiert, verrechnet und verplant. Gebraucht werde der »funktionale Mensch«, schreibt Imre Kertész in seinem ›Galeerentagebuch‹. Unsere Verhältnisse werden zunehmend so eingerichtet, dass in ihnen »das Leben des funktionalen Menschen abläuft wie der Kolben in einem gut isolierten Glaszylinder. … die Wirklichkeit des funktionalen Menschen ist eine Pseudowirklichkeit, ein das Leben ersetzendes Leben, eine ihn selbst ersetzende Funktion.«7
Nicht nur in Fabrikhallen, sondern auch in Bildungsstätten, im Umgang mit kranken oder hilflosen Menschen und sogar in der Seelsorge und im Sterbehaus hat sich die Monokultur der Verfahrensförmigkeit, die alle persönlichen Beziehungen kaltstellt, durchgesetzt. Schüler und Studenten müssen, damit sie in dieses Arrangement passen, eine erniedrigende Doppelrolle als ›Produkte‹ und ›Kunden‹ spielen; pflegende Tätigkeiten, werden im Minutentakt nach einem präzisen ›Timing‹ vollstreckt; Ärzte sprechen nicht mehr mit ihren Patienten, sondern befragen den Computer über sie. Und im Hospiz werden Vorgaben gemacht, wie viel Zeit sich ein Moribunder mit seinem Sterben lassen darf.
Natürlich funktioniert das alles nicht lupenrein. Solange Menschen am Werk sind, wird es unorganisierte Reste geben, die aber nicht etwa als Sieg lebendiger Menschen über die Maschinerie gefeiert werden, sondern ein Rationalitätsmanko darstellen, das nach noch gründlicherer Durchregelung und nach noch mehr Automatismus schreit.
Im Untertitel meiner Rede ist von der Verzweckung von Leben und Bildung die Rede. Ich bin nachträglich mit dem Untertitel doch nicht recht zufrieden. Ich würde lieber von der Verzweckung allen Tuns und Lernens sprechen. ›Bildung‹ und ›Leben‹ klingt zu sehr nach Hab und Gut und nicht nach etwas, das man tut. Dieser Unterschied ist in der konsumistischen Gesellschaft wirklich bedeutsam.
Lassen Sie mich also, um dem Untertitel gerecht zu werden, die Behauptung, wir befänden uns im Übergang in die menschenlose Gesellschaft, am Beispiel unserer Bildungsinstitutionen, Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Ausbildungs- und Fortbildungsstätten, überprüfen.
Im Jahr meiner Pensionierung stand die Zusammenlegung, meiner Hochschule mit der Frankfurter Nachbarhochschule an. Aus Einsparungsgründen und, um die Effizienz beider Hochschulen zu steigern, wie es hieß. Wer Leopold Kohr, gelesen hat - ich habe erst aus Ihrem Brief, sehr geehrte Frau Burgstaller, erfahren, dass er ebenfalls Salzburger war, - der konnte solchen Bemühungen um Steigerung der Effizienz durch Schaffung immer größerer Einheiten von vornherein zutiefst skeptisch gegenüber stehen. Leopold Kohr sieht alles Elend der modernen Welt daraus entstehen, dass die Einheiten, in denen wir leben, arbeiten, denken und wohnen eine Größe angenommen haben, die sie unregierbar machen. »…alle Formen sozialen Elends (haben) nur eine Ursache (…): ihre Größe. …Wo immer etwas fehlerhaft ist, ist es zu groß …Die Lösung heißt deshalb nicht: Zusammenschluß, sondern Teilung.«8 Von solcher Skepsis waren unsere Bildungsbürokraten nicht angekränkelt, als sie die Standortfrage zu klären versuchten. Der Standortzuschlag solle nach ökonomischen Gesichtspunkten entschieden werden, wurde mitgeteilt. Bestand sollte die Hochschule behalten, die den kostengünstigsten Studenten präsentieren konnte. Und dann wurde gerechnet: Es wurden alle von der jeweiligen Hochschule verursachten Kosten aufaddiert, nichts blieb dabei unberücksichtigt, nicht einmal das Toilettenpapier. Die so ermittelte Summe wurde durch die Zahl der eingeschriebenen Studentinnen und Studenten geteilt und voilà, der preiswertere Student war ermittelt. Diese Art Rechenoperation verschonte auch den Lehrkörper nicht. Bei Neubewerbungen, sei keineswegs die Fachkenntnis oder pädagogische Eignung eines Kandidaten allein ausschlaggebend. Leisten könne man sich nur noch einen Neuzugang, der unverheiratet, kinderlos und ein Berufsanfänger war. Die Kosten für Frau, Kinder und Dienstjahre gebe das Budget nicht her. Wer signalisiert hätte, er wolle nicht lange bleiben, betrachte den Job nur als Zwischenlösung, bis sich ein lukrativerer in der freien Wirtschaft gefunden hätte – warum nennen wir die eigentlich so anstandslos frei? - hätte sich besonders empfohlen. Ich nenne diese Rechenexempel unmenschlich. Wenn wir einen Augenblick darüber nachdenken, welche Botschaft wir den so Verrechneten über die Willkommenheit ihres Da-Seins übermitteln, dann müsste uns das Blut in den Adern gefrieren. Hier wurden leibhaftige Menschen, Menschen mit einem Gesicht und einer Geschichte, zu Kontoposten im Effizienzkalkül erniedrigt und der Preis, der für sie entrichtet werden musste, war das einzige, was über sie zu sagen war. Das ist wirklich böse, hat aber kaum jemanden bestürzt. »Was den Institutionen nützt, gilt als wichtiger als das, was richtig ist«, sagt Ivan Illich.9 Wo diese Denkungsart sich durchgesetzt hat, kann man wohl tatsächlich nichts Befremdliches an solchen Rechnereien finden. Auch der fatale Satz, dass unsere Kinder eine Investition in die Zukunft seien, kommt Politikern und Bürokraten leicht über die Zunge, statt im Wörterbuch des Unmenschen zu landen. Mich wundert es eigentlich nicht, dass die jungen Leute darüber entweder gewalttätig werden und Autos anzünden oder lammfromm und tun, was von ihnen verlangt wird. Beides ist gleichermaßen verheerend.
Die Schule ist keine pädagogische Provinz, in der andere Regeln als die des Marktes gälten. Sie ist Teil des Industriesystems. Schon in der Frühzeit der Industrialisierung waren die Fabrikherren scharf darauf, in sie hineinzuregieren und sie in Dienst zu stellen. Die Art jedoch, wie Schulen, Hochschulen und Vorschulen in den letzten 20 Jahren von der Ökonomie bis in jede Pore infiltriert wurden, bis in die Sprache hinein, die mittlerweile eine Mischung aus industriellem Uniquak und Jargon der Werbeindustrie ist, ist unheimlich. In der Schule wird wie überall produziert und konsumiert. Es stehen sich dort nicht mehr Lehrende und Lernende gegenüber, die sich gemeinsam um einen Lerngegenstand bemühen, sondern Produzenten und Konsumenten von Unterricht.
Unterricht ist eine Ware und wie alle Waren knapp. Da sie nicht für alle reicht, muss um sie rivalisiert werden. Genau genommen wird nicht um Unterricht rivalisiert, sondern um die begehrten Bildungszertifikate, die für die einen der Sesam-öffne-Dich in eine berufliche Kariere sind und für die anderen einer Verbannung auf die niederen sozialen Ränge gleichkommen. Da aber die Bildungszertifikate, die etwas taugen, dafür vergeben werden, dass man eine erkleckliche Menge Unterrichtseinheiten abgesessen und dass man ein ansehnliches Quantum Wissenskapital angesammelt hat, richten sich auf diesem Umweg sogar Bedürfnisse auf die Ware Unterricht, die ansonsten nicht sehr attraktiv ist.
Was in unseren Bildungseinrichtungen getrieben wird, steht in wirklich krassem Widerspruch zu allem, was wir über das Lernen wissen können. In Sachen Lernen sind alle Menschen Experten, jeder oder jede hat es zustandegebracht, so oder so. Wir wissen, wie es geht und wie es nicht geht und blicken, jeder für sich, auf einen reichen Erfahrungsschatz zurück. Wir können die Umstände beschreiben, wann uns die Lust daran vergangen ist, wann uns etwas begeisterte, worüber wir ins Staunen gekommen, woran wir gescheitert sind, was uns neugierig und einsichtig gemacht und was uns angeödet hat. Lernen kann wirklich jeder. Wäre das nicht so, dann hätten wir Menschen nicht überleben können. Denn auf unsere Instinkte können wir uns in Fragen der Lebensmeisterung nicht verlassen. Tatsächlich haben wir „den größten Teil dessen, was wir wissen, … außerhalb der Schule gelernt. Wie man leben kann, lernt jeder außerhalb der Schule. Wir lernen sprechen, denken, lieben, fühlen, spielen, fluchen, politisieren und arbeiten, ohne dass ein Lehrer einen Anteil daran hätte.“10 Die Bildungsinstitutionen dagegen vergehen sich so gründlich gegen alles, was Lernen ermöglicht und fördert, dass man sie geradezu als ein Maßnahmenbündel zur Verhinderung des Lernens verstehen kann.
- Wir wissen, dass es so viele Wege des Lernens gibt, wie es Menschen gibt, aber in den Schulen, werden Standards gesetzt, die für alle gleich sind, und an denen sich alle bewähren müssen.
- Wir wissen, dass Lernen unter Zwang immer eine Minderform des Lernens ist.
- Wir wissen, dass Einsicht nur in einem gastlichen und freundschaftlichen Klima gedeihen kann, aber in den Schulen wird der Geist der Konkurrenz geschürt, bei dem es um Siegen und Verlieren geht. Wer siegen will, hat jedoch anderes im Sinn als die Wahrheitssuche.
- Wir wissen, dass das Lernen seine Zeit hat, aber in den Schulen wird auf Tempo gedrängt und in 45-Minuten-Einheiten getaktet. Die Schulglocke schrillt jedes aufkeimende Interesse und jeden Ansatz von Begeisterung nieder, Enthusiasmus interruptus.
- Wir wissen, dass Menschen am ehesten über sich selbst hinauswachsen, wenn sie zur Mitarbeit an einer wichtigen Aufgabe berufen werden. Wenn da jemand ist, der mir traut und etwas zutraut, der mich braucht und auf mich hofft, entstehen unvermutete Kräfte. Können wir uns Lehrer vorstellen, die auf die Mitarbeit ihrer Schüler für eine wichtige gemeinsame Angelegenheit angewiesen sind? Können wir uns Schüler vorstellen, die das im Ernst erwarten? Die Aufgaben, die Schülern und Studenten auferlegt werden, sind beinah ausnahmslos trivial. Schulen sind wahre Produktionsstätten für belanglose Aufgaben. Denn aus Lehrenden und Lernenden sind Prüfer und Prüflinge geworden und die Aufgaben dienen der Herstellung abprüfbaren Wissens, wodurch selbst Inhalte von erheblicher Tragweite zu Lappalien werden. Um alle miteinander vergleichbar zu machen, ist es nicht wichtig zu wissen, was jeder einzelne kann, sondern nur, was er nicht kann.
Die Schule ist nicht das Gegenbild, sondern das Abbild einer Gesellschaft, die auf drei gleichermaßen zerstörerische Triebkräfte setzt, auf den Konsumismus, der uns unser Tun stiehlt, auf die Konkurrenz, die die Menschen durch Misstrauen voneinander isoliert, und auf Konformität, die die Menschen unter das Kommando einer Maschinerie stellt, einer Maschinerie, die sie selbst geschaffen haben und derer sie längst nicht mehr Herr werden können. Diese Triebkräfte werden beherrscht von drei Monopolen: Der Ökonomie, die das Weltregelungsmonopol hält, der Naturwissenschaft, die sich das Weltdeutungsmonopol unter den Nagel gerissen hat und der Technik, die sich mit der Bürokratie das Weltgestaltungsmonopol teilt. »Klaustrophobie in der verwalteten Welt«, lautet Adornos Diagnose angesichts dieser Übermacht.11
Nun fürchte ich, mein Vortrag kommt ihnen nicht sehr festlich vor, viel zu pessimistisch. Ich halte es aber mit Peter Brückner, der sagt, das genaue Hinsehen sei nicht die Sache der Pessimisten, die sich in ihrer Verzweiflung suhlen wollen, sondern derer, die ins Leben verliebt sind.12 Das ist die Kehrseite der Düsternis: Die Verliebtheit ins Leben.
Nur wer es zur Klaustrophobie in der verwalteten Welt bringt, wird den unbändigen Drang haben, dem Dickicht zu entkommen und der Unentrinnbarkeit zu trotzen. Klaustrophobe kennen nur einen Impuls: Nichts wie raus. Und da soll nun das Abseits eine Zuflucht sein? Wir assoziieren mit dem Abseits doch viel eher Ausstoßung, Außenseitertum, Verbannung, Nicht- Zugehörigkeit, Ohnmacht, Deklassierung und Desintegration. Alles wahr und alles richtig. Das Abseits, in das die Ausgestoßenen und Nicht-Zugehörigen abgedrängt werden, ist wahrlich kein wirtlicher Ort. Und so sind sich Herrschende und Beherrschte darin einig, dass man diesen Ort meiden muss wie die Pest, und sich abstrampeln muss, um zugehörig zu bleiben; um ökonomisch mithalten zu können, um so funktionstüchtig zu bleiben, dass man nicht auffällt, gesund, belastbar, flexibel, um auf der Höhe des jeweils letzten Standes der Technik zu bleiben, um nicht als rückständig zu gelten und um im Konkurrenzkampf nicht auf die Verliererseite zu geraten.
Ich rede von einem anderen Abseits, ich rede von dem Abseits, in das wir uns freiwillig begeben oder das wir selbst erst gründen. »Es gibt immer Orte zu finden, die leer von Macht sind. Die institutionelle Umklammerung des Lebens ist zu Anteilen Schein«, schreibt Peter Brückner, sogar noch über die Zeit von 1933 bis 1945. Das erste, was also zu lernen wäre, wäre, an die Allmacht des Systems nicht zu glauben. Wenn wir - und sei es in kritischer Absicht - die Totalität des Systems beschwören, sind wir ihm genauso verfallen, als wenn wir uns daran anpassen.
Was sind das für Räume, die leer sind von Macht und wo lassen sie sich finden? Sie sind nicht exterritorial, nicht abgelegen in unbesiedelten Weltgegenden, sie können fast überall entstehen, mitten im Hochbetrieb der Normalität, auch in der Schule, in der Fabrikhalle und im Krankenhaus. Das Abseits hat viele Gesichter, manchmal besteht es nur in einer Geste der Freundlichkeit. Es ist nicht von Ungefähr, dass sich so gar nichts Genaues darüber sagen lässt. Denn Räume leer von Macht entstehen erst dadurch, dass da Menschen sind, die sie mit ihrer Anwesenheit füllen. Sie sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie besiedeln. Sie werden aus einer tiefen Abneigung gegen Gleichmacherei, Vereinheitlichung und Reih und Glied erschaffen. Sie sind Stätten, in denen Menschen so zusammenwirken, dass nicht alles, was man zum Leben braucht, Geld kostet. Was umsonst ist, hat dort einen größeren Wert, als was man kaufen muss. Fürsorge ist wichtiger als Vorsorge. Sie sind gastliche Orte, in denen die Regeln der Gastfreundschaft gelten statt der beinharten Konkurrenz, in denen die Verschiedenheit statt der Konformität gepflegt wird und in denen das Tun, das wir uns haben stehlen lassen, zurückgewonnen wird, um dem Konsumismus zu entgehen. Das, was das Abseits aus dem Blickwinkel der Herrschenden verächtlich und aus dem Blickwinkel der von Ausschluß Bedrohten furchterregend macht, erscheint den Klaustrophoben, die sich dort versammeln, gerade als das Rettende. Nicht- Zugehörigkeit verheißt ein Stück Freiheit, Ohn-Macht - jene Haltung, die nichts begehrt, von dem, was die Macht verwaltet, am allerwenigsten die Macht selbst – ist eine radikale Form des Widerstandes, Deklassierung wird umgedeutet zu einem Recht auf Armut inmitten einer vom Immer- Mehr gepeitschten Gesellschaft. Ivan Illich, der große Institutionenkritiker der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr der Humanisierung der Institutionen das Wort geredet, sondern der Philia. Das Abseits ist ein Ort der Freundschaft und der Befreundung, nicht weil das die Welt retten wird, sondern weil es gut ist, Freund und befreundet zu sein.
Ich habe mit einer Erinnerung an Robert Jungk begonnen, und ich will mit einer Erinnerung an ihn schließen. Die 1978 in Graz stattfindende Steirische Akademie hatte das Thema ›Alternative Lebensformen‹, und das passte gut in die Stimmung, die sich nach dem tags zuvor gefällten Volksentscheid gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf unter den Gegnern ausbreitete. Fünf Tage lang hörten und hielten wir Vorträge im Auditorium Maximum der Grazer Universität. Als letzter Redner der Veranstaltung war Robert Jungk an der Reihe. Als wir uns an diesem Morgen in dem nüchternen, fensterlosen Hörsaal in Erwartung einer flammenden Rede einfanden, war eine wundersame Veränderung mit ihm vorgegangen. Es duftete nach Herbst. In den Gängen und auf den Treppenstufen gingen wir durch raschelndes Laub, das diesen Duft verströmte. An den Enden der Sitzreihen standen Kisten mit rotbackigen Äpfeln, die einen zweiten Duft zu dem ersten mischten, und in luftiger Höhe baumelten windschief zwei Fensterflügel, die natürlich auch kein Licht hereinließen, aber doch die Lichtlosigkeit dieses Raumes und die Vermauerung der Nahtstelle zwischen Drinnen und Draußen recht sichtbar machten. Auf einmal merkten wir, dass wir uns die ganze Zeit über in einem Raum befunden hatten, der Platons Höhle nicht unähnlich war. Wir wurden durch diese abgetakelten Fenster daran erinnert, dass Erleuchtung etwas mit Licht zu tun hat.
Die Umgebung, die Robert Jungk uns bereitet hatte, nenne ich ein Abseits, eines, das mitten im Zentrum siedelt. Wes hatte es dazu bedurft? Eines Menschen, der sich mit unfreundlichen Lernumständen nicht arrangieren wollte, der eine paar Studierende dazu bewegen konnte, das Laub in Säcken herbeizuschaffen und ein paar Putzfrauen, die Mehrarbeit, die trotz hilfreicher Hände, dann doch entstand, auf sich zu nehmen. Ferner brauchte es eine Baustelle, auf der sich ein paar ausrangierte Fenster fanden und einige Bauern, die froh waren, ihre überzähligen Äpfel einem guten Zweck zuzuführen.
Und dann blieb auch noch der angekündigte Vortrag aus. Stattdessen forderte Robert Jungk das Auditorium auf, ihm Sätze zuzurufen, die begannen mit: »Ich kann besonders gut …« Das ging erst sehr zögerlich, denn in diesem Satztypus sind wir nicht sehr geübt. Sich zu bekennen zu etwas, dass man gut kann, gilt als unschicklich und peinlich. Aber dann überschlugen sich die Zurufe doch und wurden an der Wandtafel mit Kreide protokolliert. Robert Jungk betrachtete das Protokoll eingehend und sagte: »Na, das reicht doch für die Revolution in Graz.«
1 Robert Jungk: Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche, München 1983, S. 48f
2 Ronald D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt ??, S. 24.
3 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt 1985, S. 214 Bert Brecht: Gesammelte Werke Bd. 9, Frankfurt 1967, S. 722f.
5 Ich weigere mich, das elektronische Equipment nach Generationen zu rechnen und ihm so ›Natalität‹ zuzubilligen. Zu Natalität, Geburtlichkeit vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes, Bd. 2, München/Zürich 1978, S. 206. »…Geburt, …Eintritt eines neuen Geschöpfs, das mitten im Zeitkontinuum als etwas völlig Neues erscheine.«
6 Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, München 1998, S. 114. 7 I. Kertész a.a.O. S. 8f.
8 Kohr, Leopold: Das Ende des Großen. Zurück zum menschlichen Maß, Salzburg/Wien 2002, S. 37f.
9 Illich, Ivan: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, München 1998, S. 30.
10 Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft. 4. Auflage, München1995, S. 52f.
11 Theodor W. Adorno:
12 Peter Brückner: Das Abseits als sicherer Ort, Berlin 1982, S. 149.