Heute, am 2. Dezember 2017, ist der 15. Todestag von Ivan Illich.

Kaum zu glauben, dass schon 15 Jahre vergangen sind seit dem Tag, als Barbara Duden mich anrief, um mir zu sagen, Ivan sei gestorben. ... 4 Jahre ist es schon her, dass Johannes Beck am selben Tag wie Ivan und um die gleiche Stunde »gesund gestorben« ist. Das war es, was ich Micha Illich, Ivans Bruder, am Tag von Ivans Beerdigung sagen hörte: »Es ist so gut, dass der Ivan gesund gestorben ist.« Dass es so schwer zu glauben ist, dass schon so viele Jahre vergangen sind, ist nicht nur der hundertfach bezeugten Erfahrung geschuldet, dass die Zeit mit zunehmendem Alter uns immer schneller davonrennt, sondern auch der sehr lebendigen Anwesenheit Ivans in meinem, in unserem Alltag. Das Gespräch mit ihm hat nicht aufgehört, im Gegenteil. Die Frage: »Was hätte Ivan dazu gesagt?« liegt beinah täglich in der Luft in diesen ratlosen Zeiten. Aber noch in anderer Hinsicht ist Ivan sehr präsent. Er war, solange ich ihn kannte, damit beschäftigt, Leute zu ›verbandeln‹, wie er es nannte; also Leute, die er aus verschiedensten Zusammenhängen kannte und von denen er meinte, sie hätten einander etwas zu sagen, was ihrem Denken oder Tun einen Schubs geben könnte, miteinander bekannt zu machen, und zwar über Kontinente hinweg. Die Kunst des Verbandelns praktiziert er immer noch, auch 15 Jahre nach seinem Tod. Wir haben davon in diesem November gerade eine staunenswerte Kostprobe bekommen. 

Das Verbandeln ist oft eine längere Geschichte, sie tendiert dazu, etliche Umwege zu machen. Nur selten geht es dabei geradeaus und direkt zu, nach dem Prinzip, dass die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Es ist im Nachhinein eine lohnliche Mühe, zurückzuverfolgen welche krummen Wege und Schlenker notwendig waren, damit ein paar Menschen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zusammenfinden konnten. Unsere Zusammenkunft am 13. November 2017 in der Küche des alten Friesenheimer Bahnhofs hatte auch eine längere Vorgeschichte. 
Wir müssen ins Jahr 2014 zurückgehen zu einem zweitägigen internationalen Symposium, das wir von der Stiftung Convivial Anfang Oktober in der Frankfurter Naxoshalle veranstalteten unter dem Thema: »Alarmbereitschaft! Krise als Dauerzustand Gewöhnung an ein Unding. Zur Aktualität Ivan Illichs.« Zu diesem Symposium luden wir auch Jean Robert aus Mexiko als Vortragenden ein. Seither stehen wir mit ihm in enger Verbindung und viele eMails gingen zwischen ihm in Mexiko und uns hier hin und her. Und etliche stattliche Pakete kamen von dort zu uns, die Jeans gesamten Bestand an Publikationen aus dem CIDOC der 70er Jahre enthielten. Jean hat uns diese Kostbarkeit für das Archiv zur Verfügung gestellt. 

Bei dem Treffen in Frankfurt berichtete er, von den Vorbereitungen zu einer größeren Veranstaltung zu Ivan Illich in Mexiko. Dorthin wurden wir dann eingeladen, und Marcus Jurk, Mitglied des Stiftungsrates, vertrat im August 2016 die Stiftung Convivial bei dieser mexikanischen Konferenz. Neben etlichen alten Weggefährten war auch Carl Mitcham, mit dem Ivan an der Pennstate University mehrere Seminare zur Technikgeschichte abgehalten hatte, bei diesem Treffen anwesend. Marcus kam mit Carl ins Gespräch auch über unser Interesse an eventuellen Fundstücken für das Ivan-Illich-Archiv. Carl, der für dieses Jahr eine Einladung an die Universität Darmstadt hatte, versprach, uns bei der Gelegenheit zu besuchen. Wir hatten ein sommerliches Treffen im Friesenheimer Garten rund um den gastlichen Tisch. Etliche Freunde waren auch von weiter her angereist, um zu hören, was Carl über Amerika unter dem Regime von Donald Trump und über seine eigenen Erfahrungen in China, wo er seit einiger Zeit eine Gastprofessur innehatte, zu erzählen hatte. Anderntags setzten wir das Gespräch im Wiesbadener ›Laden‹, dem Standort des Archives fort. Carl reiste ab nach Peking mit dem Versprechen, sich wieder zu melden, wenn er in die Staaten zurückgekehrt sei und seine eigenen Bestände daraufhin durchzumustern könne, was für unser Archiv von Belang sein könnte. Mitte September erhielt ich eine eMail, in der er sich »with great pleasure« an unsere Friesenheim-Wiesbadener Zusammenkunft erinnert. Und er fährt fort: »Yesterday I was involved in another convivial conversation in San Francisco hosted by Jerry Brown, Governor of California. When I told Jerry about our meeting in June, he asked about making contact with you in November, when he is in Bonn for the COP23 meeting. I said I thought you would be very interested in meeting with him and perhaps arranging another convivial conversation.«
Und so ergab sich also die zunächst sehr vage erscheinende Möglichkeit, den Gouverneur von Kalifornien, mit dem Ivan Illich sehr verbunden war und den viele Freunde aus Ivans Umfeld bereits als Gastgeber der sogenannten ›Oaklandtables‹ - intensiven Gesprächen über drängende Zeitfragen - in Kalifornien kennengelernt hatten, in Friesenheim zu empfangen. Die Vorbereitungen liefen an, ohne dass ich mir vorstellen konnte, dass dieses Treffen wirklich zustandekäme. Wie hatte man sich die Terminpläne der Beteiligten auf der Bonner Klimakonferenz vorzustellen? Jerry Brown war ja, angesichts des Ausstiegs der USA aus dem Pariser Klima-Abkommen und angesichts seiner Opposition dazu, einer der prominentesten Teilnehmer. Der eMail-Verkehr zwischen Kathy Baldree, der Sekretärin für Terminfragen, und mir nahm ein beachtliches Volumen an. Schließlich gab es ein Datum: den 13. November. Ich konnte also die übrigen Gäste einladen, mit dem Vorbehalt, dass alles noch sehr unbestimmt sei. Dann gab es eine Uhrzeit, 18 Uhr, und auch die genauere Vorgabe, dass es ein ›Dinner‹ werden sollte. Dann begannen die Kocherei und das Stühlerücken um den großen ererbten Küchentisch herum , der schon mehrere Generationen Gäste gesehen hat, und von dem Wanderbruder meines Großvaters mit handwerklicher Kunst und Erfindungsgabe gebaut worden ist. 18 Personen können daran maximal Platz finden. Dann wurde die Liste der eingeladenen Gäste und die jeweils aktualisierte Version nach Kalifornien mitgeteilt. Ein kleiner Hinweis darauf, dass nicht irgendein Besuch ins Haus stand. 
Zwei Tage vor dem Ereignis tauchte vor unserer Einfahrt ein Auto auf, das dort irgendwie nicht hingehörte, denn normalerweise fahren bei uns eher Traktoren und Erntemaschinen vorbei und gelegentlich die Müllabfuhr und das Postauto. Das Telefon klingelte, und die California Highway Patrol meldete sich aus dem Auto mit den dunklen Scheiben zur Ortsbesichtigung an. Der ›Ort‹, der besichtigt werden sollte, war allerdings noch mit Putzeimern und Suppentöpfen vollgestellt, und es brauchte einige Phantasie, sich dort ein Konvivium vorzustellen. Einer der Herren stolperte über den Staubsauger und ich beeilte mich zu versichern: „It will be less dangerous on Monday.« 
Aber als dann Jerry Brown und seine Frau Ann zwei Tage später kurz nach 18 Uhr, wie verabredet, tatsächlich eintrafen, waren alle Befremdlichkeit und alle Irrealität wie weggeblasen, und das Konvivium begann ohne alle Umstände.

 
Die Frage, die uns alle am brennendsten interessierte und die sich wahrscheinlich alle Anwesenden auf je eigene Weise zurechtgelegt hatten, war natürlich: Wie waren Ivan Illich und Jerry Brown aneinandergeraten, und was verband sie. 

  •  Ivan Illich, der gesagt hat: »ich anerkenne meine Ohnmacht, erlebe sie tief. Das kann man nicht allein tun – dafür ist Freundschaft, die  ›philia‹, die Grundlage«; und Jerry Brown, Repräsentant der Macht, Gouverneur von Kalifornien, der sechstgrößten Weltwirtschaft und Standort der wahnwitzigsten Technoprojekte der Welt. 
  •  Ivan Illich, der gesagt hat: »Jenseits einer kritischen Geschwindigkeit kann niemand Zeit ›sparen‹, ohne dass er einen anderen zwingt, Zeit zu ›verlieren‹. Derjenige, der einen Platz in einem schnelleren Fahrzeug beansprucht, behauptet damit, seine Zeit sei wertvoller als die Zeit dessen, der in einem langsameren Fahrzeug reist.« Und Jerry Brown dessen Lieblingsprojekt der Hochgeschwindigkeitszug von Los Angeles nach San Franzisko ist.
  •  Jerry Brown, der von der Bonner Klimakonferenz zu uns kam, wo um ›Grenzwerte‹ im Kohlendioxyd-Ausstoß gefeilscht und geschachert wird, und Ivan Illich, der diese Grenzwerte und die damit verbundenen Vorstellungen von dem, was eine Grenze sei, abfällig ›Grenzgulasch‹ nannte; der sich über die Systemanalytiker empörte, die von Weltkontrolle faseln; und über die Tausende von Schulkindern, die dazu verführt werden, zu brüllen »Wir wollen kein Ozonloch und keinen Treibhauseffekt.« 

Alle diese Fragen haben wir nicht gestellt. Sie waren ganz einfach nicht ›dran‹. Die einzige Frage dieser Art stellte Jerry Brown selbst. Er fragte seinen Tischnachbarn, worauf er aus sei, was ihn umtreibe, was er wolle. Die prompte Antwort: »Ich will die Welt verbessern.« Darauf der Gouverneur mit einer leise abwehrenden Geste der Hände: »Niemand kann die Welt verbessern. Worauf es ankommt, in das hier.« Und er zeigte in die Tischrunde. Das war gewiss in Ivans Sinn gesagt. 
Und dann ließ er uns Anteil nehmen an seinen ernsten Sorgen über die unkontrollierte Macht des amerikanischen Präsidenten über das rote Telefon. Aber dabei ging es nicht um Weltverbesserung, sondern um die notwenige Begrenzung dieser Macht. Und er erzählte uns, wie er sich die Fortsetzung der Anstrengungen gegen die Erderwärmung vorstelle: als eine Bewegung von unten, von kleinen lokalen und kommunalen Einheiten her, aber auch von National- und Bundesstaaten, weltweit, die sich ihre eigenen, hoffentlich ehrgeizigen, Ziele setzen und an ihrer schrittweisen, hoffentlich zügigen Verwirklichung arbeiten, jenseits von Weltkonferenzen und Klimagipfeln. Dieser Gedanke hatte trotz der Skepsis, die aufkam, etwas Zündendes: Wie wäre es wenn Friesenheim in Klimafragen Kooperationspartner von Kalifornien und Co würde? Ich hätte Lust, diese Frage in meinem Dorf zu stellen. Nach drei Stunden ernster und heiterer Gespräche - die heiteren Töne waren insbesondere Ann und ihrer liebevollen Ironie zu verdanken - brachen die kalifornischen Gäste auf. Und der Abschied war so herzlich und sogar ein wenig wehmütig, als hätten wir uns nicht eben erst kennengelernt. Wir waren mit Ivans Hilfe gut verbandelt worden. Und vielleicht gibt es ein Wiedersehen in Kalifornien.