Illichs Hypothese über die heutige Zivilisationskrise

Die Grundgewissheiten oder Selbstverständlichkeiten, die während mehrerer Jahrhunderte Fundamente der westlichen philosophischen, aber auch sozialen, ökonomischen und politischen Ideen waren, sind in den letzten dreissig oder vierzig Jahren bröckelig geworden. Genauer gesagt, sind die Axiome, die unsere sozialen Theoreme unterstützten, schwankend geworden. In seinen letzten Gesprächen mit David Cayley1, schreibt Ivan Illich die zivilisatorische Krise unserer Zeit einer tiefen Umwandlung der Ideen und Wahrnehmungen zu, die während sieben oder acht hundert Jahren dem Westen seine Kohärenz verliehen. Um bündig zu bleiben, sagen wir, dass diese Ideen mit den Werkzeugen oder Instrumenten zu tun hatten, die lange spezifisch für den Westen gewesen waren. Die westliche Kultur war instrumental. Sie hatte Werkzeuge oder Instrumente für alle mögliche Absichten entwickelt. Unter dem Schild des Kolonialismus und dann der Entwicklung, bat sie diese materiellen und intellektuellen Instrumente der ganzen Welt an2. Die Verweigerung dieses Angebots galt als unzivilisiert. Die Abwesenheit des westlichen Instrumentariums war ›Unterentwicklung‹ Die heutige entscheidungslose Krise ist, laut Illich, eine tiefe Krise dieses Paradigmas. Krise der ökonomistischen, der kolonialistischen und der Entwicklungs-Mentalität, der Oberhoheit der westlichen Kultur.  Im Epizentrum dieses kulturellen Erdbebens sei das Zerbröckeln lange prägender Selbstverständlichkeiten darüber, was ein Werkzeug, ein Instrument ist. In anderen Worten: Die gegenwärtige Krise entspreche dem Zusammenbruch der instrumentalen Kategorien, die lange das kennzeichnende Merkmal des Westens waren. Laut Illich ist dieser Zusammenbruch das sichere Zeichen, dass das instrumentale Zeitalter zu Ende gekommen ist.
Zusammenfassend: Illichs Grundhypothese ist, dass die heutige Zivilisationskrise das Ende einer lange dauernden historischen Epoche kennzeichne: das instrumentale Zeitalter.

Der Zusammenbruch der instrumentalen Kategorien seit den 70. - 80. Jahren

Um 1970 fing ein Cocktail von Gewissheiten an, sich aufzulösen. Die Ideen, die dann ihre Kraft verloren, hatten so lange geherrscht, dass sie als selbstverständlich und natürlich galten. Einige der Ideen, die das instrumentale Zeitalter kennzeichneten, das um 1970 zu Ende kam, waren:

  • Ein Werkzeug ist ein Mittel zu einem Ziel; jedes Mittel zu einem Ziel kann als ein Werkzeug definiert werden.  Insofern sie ein Ziel haben, können Institutionen als Werkzeuge betrachtet werden. 
  • Ein Werkzeug steht im Dienst von persönlichen Absichten, die gleichsam im Werkzeug eingenistet sind. 
  • Aber, als causa instrumentalis, ist ein Werkzeug eine Ursache ohne Absicht. 
  • Das Werkzeug unterscheidet sich von der Hand, die es hält: es ist distal in Bezug auf sie; seine Distalität ist ein kritischer Abstand, der die Entscheidung ermöglicht, es zu fassen oder liegenzulassen. 
  • Alles was einen Nutzen hat kann als ein Werkzeug betrachtet werden: die Nützlichkeit ist die Schwester-Eigenschaft der Instrumentalität. 
  • Der Körper steht in einem physischen Gegenüber zu dem Werkzeug. 
  • In der Optik ist der schauende Körper in einem ähnlichen Gegenüber- Verhältnis zu dem Bild: das schauende Auge ist nicht Teil des Bildes, wie die Hand nicht Teil des Werkzeugs ist.

Zusammenfassend: die Hauptbedingung der Möglichkeit zu unterscheiden und zu entscheiden, deutlich zu denken und zu sehen war die Existenz eines kritischen Abstands zwischen dem Werkzeug und seinem Benutzer, dem Beobachter und dem Objekt. Der Schwund dieses kritischen Abstands sei die Sprengkapsel der Krise, der Krise ohne krisis. Der Computer hier auf dem Tisch ist kein Instrument. Es fehlt ihm genau das, was im 12. Jahrhundert als spezifisch für ein Instrument angesehen wurde: die Distalität zwischen dem Benutzer und dem Werkzeug. Einen Hammer kann ich nehmen oder liegenlassen. Das macht mich nicht zu einem Teil des Hammers. Der Hammer bleibt ein Instrument des Benutzers. Anders das System. In einem System wird der Benutzer, der Anwender durch die Logik des Systems zu einem Teil des Systems.3

Im gleichen Gespräch sagte Illich auch: Wenn es stimmt, dass »Werkzeug« ein zeit- oder epochenspezifisches Konzept ist, das für ein bestimmtes Zeitalter charakteristisch ist, eine Epoche, in der das Konzept von Werkzeug oder Technologie, wie man meist sagt, zur wohl am wenigsten fragwürdigen aller alltäglichen Selbstverständlichkeiten wird, dann eröffnet sich die Möglichkeit, das zu tun , was ich während der letzten fünfzehn oder zwanzig Jahre versucht habe: zu behaupten, oder wenigstens die Hypothese aufzustellen, dass irgenwann während der 1980er Jahre die technologische Gesellschaft, die im 14. Jahrhundert begann, an ihr Ende gekommen ist.4

Der Beginn der Entwicklungsgeschichte der Instrumentalität als möglicher Bruchpunkt in der Philosophie der Technik

Am 23. März 1996, in Los Angeles, hielt Ivan Illich einen Vortrag vor der Catholic Philosophical Association5. Das Thema war das historische Auftauchen eines neuen Werkzeugbegriffs im XII. Jahrhundert. Vor dieser Zeit herrschte das organische Werkzeug. Das neue Werkzeug kann als instrumentales Werkzeug definiert werden. Das organische Werkzeug drückte eine Entsprechung zwischen Körper und Kosmos aus. Das instrumentale Werkzeug brach diese Entsprechung. Der Hauptpunkt dieses Vortrags war, dass die Wahrnehung des Unterschieds zwischen organischem und instrumentalem Werkzeug, eine notwendige Bedingung der asketischen Praxis, es heisst des guten Lebens in der Welt der Technik ist. Nur mittels dieser Unterscheidung kann man vermeiden, die nützliche Produktion eines Dienstes mit der Nächstenliebe zu verwechseln. Die Instrumentalisierung des Werkzeugs erblindete, lähmte und betäubte den Sinn der unentgeltlichen Liebe und führte zu der Verwechslung der Liebe und des Dienstes (…).6

Die Idee einer im Werkzeug eingenisteten speziellen Absicht ist so spezifisch westlich wie der Sexus oder die in Stundenkilometern gemessene Geschwindigkeit. Daher die Gefahr, dass die Kirchen das Wachstum der staatlichen Dienstagenturen für eine wachsende Kundschaft rechtfertigen. Aber was Illich am meisten fürchtete war die symbolische Wirkung dieses Wachstums; nämlich: dass der instrumentale Wert der Personen ihre Berufung zur Barmherzigkeit verfinstern würde. Aber, was heißt »instrumental« in der Sicht des organischen Werkzeugs? Ein Grieche verstand eine Axt als ein organon: ein Organ, wie die Schaufel und das Messer oder die Hand, »Organ aller Organe«. Während des II. christlichen Jahrtausends wurde aber die Axt in ein instrumentum umdefiniert. Illich betrachtete diesen Wandel als einen Hauptschritt zu der modernen Welt. Wenn Illichs Idee einer Instrumentalisierung des Werkzeugs im hohen Mittelalter sich einen Weg in die Philosophie der Technik bahnen würde, könnte sie ihr Anfangspunkt werden. Das ist aber nicht der Fall. Die Philosophie der Technik wird von Philosophen betrieben, die den Unterschied zwischen Organen und Instrumenten nicht sehen. Deshalb ist ihr Verständnis der Werkzeuge total ahistorisch. Übrigens wird der moderne Mensch nicht mehr als Werkzeugmacher, sondern als Werkzeugverbraucher definiert. Jedes Werkzeug, das er benutzt stellt eine von einem Entwerfer, Erzieher oder Ingenieur definierte Absicht dar. Die Werkzeuge und die Technik befinden sich heute in einer Sphäre der Heteronomie, die jede grundlegende philosophische Überlegung beeinträchtigt.

 

  • 1. Ivan Illich, In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München: Verlag C.H. Beck, 2006 [2005].
  • 2. Wolfgang Sachs, »Die eine Welt«, in W. Sachs, Hg., Wie im Westen, so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1993 [1992], S. 441, 2. »Wissenschaft, Staat und Markt beruhen auf einem systematischen Wissen über den Menschen, die Natur und die Geselleschaft, das allegemeine Gültigkewit beansorucht und überall und auf jeden anwenbar sein soll. Dieses Wissen trägt keine Spuren seines Ursprungs mehr, nichts weist auf den Ort und den Kontext seiner Entstehung hin; und gerade weil es nirgendwo gehört, kann es überall eindringen«.
  • 3. Ivan Illich, In den Flüssen nördlich der Zukunft, op. cit., S. 229.
  • 4. Ibid., S. 103, 4.
  • 5. Ivan Illich, »L’ascèse à l’âge des systèmes. Propédeutique philosophique à l’usage chrétien des instruments« (1996/2002), ---- , La perte des sens, Paris : Fayard, 2004, p. 279, 80, Fußnote 1.
  • 6. Ivan Illich,op. cit., p. 280.